Ehrendame   Er wachte auf, eine Ehrendame empfing ihn und geleitete ihn aus dem Flugzeug zum Vortrag, darauf ins Hotel und am nächsten Morgen zum Flugzeug. Er sah viele Ehrendamen. Er konnte sich nie erinnern, wie sie ausgesehen hatten. In einem Hotel in Santa Monica (wenn es Santa Monica war) zog er, müde vom Dinner, auf dem Bett sitzend die Schuhe aus. Als er aufblickte, saß ihm ein weißgekleideter Mann gegenüber, dessen pechschwarzes Haar im Gegensatz zu seinem uralten Gesicht stand; alles befand sich im Gegensatz zu diesem Gesicht, die jünglinghaften Hände, die Geschmeidigkeit seines schlanken Körpers - ihres schlanken Körpers, denn im Ledersofa saß eine Frau, wie Melker plötzlich erkannte. Auch war das Gesicht nicht uralt, sondern von einer alterslosen Schönheit: Es war die Ehrendame, von der er sich vor dem Hotel verabschiedet hatte, und alle Ehrendamen waren diese Ehrendame gewesen. Sie sei Uriel, sagte sie und gab Melker eine Taschenuhr. Von ihrem Kunden, fügte sie bei. Melker betrachtete die Uhr. Sie hatte einen Zeiger und einundsechzig Ziffern. Der Zeiger wies auf etwas über achtundfünfzig.

»Eine Uhr für dich, Moses«, sagte sie.

Melker wurde nachdenklich. »Ich bin etwas über achtundfünfzig«, sagte er.

»Siehst du«, lachte sie. »Deine Uhr.«

Moses Melker meinte, wenn er schon so eine merkwürdige Uhr bekomme, möchte er doch wissen, wer denn ihr Kunde sei, der ihm die Uhr schenke. Sie habe nur einen Kunden, antwortete sie, den Flugzeugbesitzer. Bald bestelle er bei ihr Uhren mit hundert Stunden, die Stunden zu hundert Minuten, die Minuten zu hundert Sekunden, dann wieder Uhren mit nur fünfzehn Stunden, wobei jede Stunde dreihundert Minuten und jede Minute fünfundvierzig Sekunden dauern müsse, aber auch die Sekunden seien nicht gleich, einige Sekunden seien 3 1/4 Sekunden, andere 7 Minuten lang, und einmal habe sie eine Uhr konstruiert, da habe ein Tag tausend Jahre gedauert, ob ihr Kunde überhaupt eine normale Uhr besitze, wisse sie nicht, aber das sei nebensächlich, Kunde sei Kunde, und es sei ihr einziger. Wieder war es Melker, als säße ein Mann vor ihm, mit jugendlichem Körper und einem uralten Gesicht, und als ihn die Ehrendame frühmorgens zum Flugzeug brachte, hatte er den Vorfall vergessen und auch die Uhr, die irgendwo in seinem Gepäck tickte. Nur kam ihm die Ehrendame irgendwie bekannt vor.   - Friedrich Dürrenmatt, Durcheinandertal. Zürich 1998

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Dame

 

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