Dyskrasie    Es ist gerade diese leichte aber offenkundige Dyskrasie zwischen der Verschwiegenheit des Nichts und der Verschwiegenheit dessen, was das Nichts sein könnte aber keineswegs sein muß, die die unerforsch-liche Unordnung des Wahnsinns auslöst. Du wirst jetzt bemerken, daß man hier keine Folge von unverbundenen aber klaren Tönen mehr hört, keinen sinnlosen Wettlauf der Phoneme, die sich nachlaufen und mit pedantisdier Besessenheit bespitzeln; vielmehr vermischen und verkneten sich jetzt die Stimmen, verheddern und überlagern sich in Schichten und verlieren sich in einer Art sublimer Agglutination: wenn du zum Beispiel eine Synglossie hörst, die es gestattet, das gleichzeitige Bestehen etwa von n, o, ;,  x,  !, u zu identifizieren - aber dieses Wort ist ungenau, denn gerade die Identifikation ist mit dem Eifer des Wahnsinns unvereinbar - dann können wir annehmen, daß das N auf eine Phase erniedrigenden, verächtlichen, ja allerschändiichsten Flehens anspielt; das O könnte ein Versuch sein, eine Komplizenschaft von universaler Art zu gründen, fast als ob der Fragende, der wirklich nur seine eigene Stimme hat, die ihn vom Nichts unterscheidet, und der Befragte, der wirklich nur seine eigene verschwiegene Stille hat, die ihn vom Nichts unterscheidet, ein feuchtfröhliches Einverständnis fänden bei einem begrenzten Gelage, das mit der Wahrheit zu tun hätte, oder mit dem Moment der Bedeutung, der geistigen Rettung, kurzum mit der Auflösung des Wahnsinns; du wirst aber bemerken, daß an diesem Punkt ein ; dazukommt, d. h. eine Pause, die aber dem N und dem O nicht wie gewöhnlich folgt, sondern mit ihnen zugleich existiert, so als wären die Vergeblichkeit der Niedertracht und die feige Verführung des O's in einem Bewußtsein der Vergeblichkeit ausgesprochen worden, oder, um genau zu sein, im Inneren - man beachte die Feinheit (denn der Schwachsinn gebietet über eine ziemlich scharfsinnige Rhetorik) - im Inneren, sage ich, der Aussprache selbst, oder vielleicht müßte ich genauer sagen: im Inneren der Stille, in einem Schrein, einer Nuß, einer Robe, einem Panzer, einem Sarkophag, einer Kugel aus Stille; du wirst aber bemerken, daß das Wort »Kugel«, das ich zuletzt gebrauchte, nicht notwendig darauf hinweist, daß diese Kugel am Sein teilhat; es könnte auch der Begriff einer Kugel sein, der im übrigen mit dem Nichts verwandt ist, von dem ihn nur die Begrifflichkeit der Form unterscheidet, die in gewisser Weise der Verschwiegenheit entspricht, die das vermeintliche Nichts vom absoluten Nichts unterscheidet. Das, was die Kenner zu Feinschmeckern des Wahnsinns macht, sind eben diese rhetorischen Finessen, deren es in anderen Formen der Rede nichts Vergleichbares gibt. Und wenn dann auf das simultane Satzzeichen ein X folgt, dann muß ich zugeben, daß es sich um einen ungeschickten Versuch handelt, eine Weisheit wiederzuerlangen, von der man gehofft hatte, sie wäre aus der Rede des Wahnsinns getilgt; denn sowohl als Klang wie als Graphem ist das X überaus hinderlich und will im Grunde nichts anderes als dieses: erklären, daß die Frage als unsinnig erkannt wird, und damit als unterdrückt oder verbannt - an einem Ort gehalten, wo die Frage in sich selbst zusammenfällt. Auf das X folgt ein leerer Raum, der dort auch nicht fehlen darf - zur Erleichterung der Transkription. Jetzt überkommt mich eine unwiderstehliche Lust, mir vorzustellen, daß dieser Zwischenraum eine unaussprechbare Stimme beherbergt, einen Gedankenstrich oder ein Sternchen - kurzum, einen Augenblick der Stille, der völlig anders ist als die freiwillige Stille des ;.  - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 

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