Dornröschenhaus In einer Ecke des Zimmers hatte Marceline eine Art Waschraum eingerichtet, einen Tisch, eine Waschschüssel, eine Kanne, wie draußen auf dem flachen Land. Zazie würde sich also wie zu Hause fühlen. Aber Zazie fühlte sich nicht wie zu Hause. Sie war an das am Boden festgeschraubte Bidet gewöhnt und kannte auch, durch Benutzung, noch manches andere Wunder der sanitären Kunst. Angewidert von dieser Primitivität, befeuchtete sie sich, tupfte sich etwas Wasser hier und dort hin und fuhr sich ein einziges Mal mit dem Kamm durchs Haar. Sie sah in den Hof hinunter: nichts geschah dort. Auch in der Wohnung sah es aus, als geschähe da nichts. Das Ohr an die Tür gepreßt, vernahm Zazie keinerlei Geräusche. Lautlos verließ sie ihr Zimmer. Das Eßzimmer war dunkel und stumm. Einen Fuß vor den ändern setzend wie beim Blindekuhspielen, die Wand und die Gegenstände abtastend, wenn man die Augen schließt, ist es doch noch lustiger, gelangte sie zur ändern Tür, die sie mit beachtlicher Vorsicht öffnete. Dieses andere Zimmer war ebenfalls dunkel und stumm, jemand schlief friedlich darin. Zazie machte die Tür wieder zu, legte den Rückwärtsgang ein, was am lustigsten ist, und nach sehr langer Zeit gelangte sie ari eine dritte und andere Tür, die sie mit nicht weniger großer Vorsicht wie die vorhergehende öffnete. Sie stand in der Diele, die ein mit roten und blauen Scheiben geschmücktes Fenster mühsam hell machte. Es ist noch eine Tür zu öffnen, und Zazie entdeckte das Ziel ihres Ausflugs: das Weze.

Da es eins nach englischer Art war, faßte Zazie wieder Fuß in der Zivilisation, um eine gute Viertelstunde dort zu verbringen. Sie findet das Örtchen nicht nur nützlich, sondern auch lustig. Es ist ganz sauber, becolingelackt. Das Seidenpapier knistert lustig zwischen ihren Fingern. Zu dieser Tageszeit gibt es sogar einen Sonnenstrahl: ein Lichtbrodem fällt durch das Oberlicht herab. Zazie überlegt lange, sie fragt sich, ob sie die Wasserspülung betätigen soll oder nicht. Das wird bestimmt Verwirrung stiften. Sie zögert, entschließt sich, drückt ab, der Wasserfall braust, Zazie wartet, aber nichts scheint sich gerührt zu haben, es ist ein Dornröschenhaus. Zazie setzt sich wieder hin, um sich das betreffende Märchen zu erzählen, wobei sie tolle Geschichten berühmter Schauspieler einflicht. Sie verliert sich ein wenig in der Legende, aber schließlich findet sie ihren kritischen Geist wieder, sie erklärt sich, dal? die Märchen unwahrscheinlich blöde sind, und beschließt rauszugehen. Als sie wieder im Vorraum steht, entdeckt sie eine andere Tür, die vermutlich aufs Treppenhaus geht. Zazie dreht den Schlüssel um, der aus illusorischer Vorsicht im Schloß steckengeblieben ist, sie hatte richtig getippt, sie steht im Treppenhaus. Sie schließt ganz sachte die Tür hinter sich zu, dann geht sie ganz sachte hinunter. Auf der ersten Etage macht sie eine kleine Pause: nichts rührt sich. Schon ist sie im Erdgeschoß; und da ist der Hausflur, die Haustür steht offen, ein Viereck Licht, Zazie ist schon dort, sie ist draußen.   - Raymond Queneau, Zazie in der Metro. Frankfurt am Main 1999 (zuerst 1959)

Dornröschen Haus

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