Dorfstraße    Auf der breiten Dorfstraße lagen Wagen, Menschenleichen und Viehkadaver.

Ein Japaner, ein Bajonett in der Gurgel, war auf einen Russen gefallen. Dem Russen war ein Auge ausgelaufen, es zog sich lang und blau über seine Wange. Auf der blutigen Feldbluse krochen Fliegen.

Vier Japaner lagen an einem Bretterzaun, die Gesichter auf der Erde, als schämten sie sich. Ihre Hinterköpfe waren zerschmettert. Hautfetzen mit harten schwarzen Haaren klebten auf den Rücken der adretten Uniformen, und die gelben Gamaschen waren sorgfältig gebürstet, als hätten sich die Japaner zu einem Bummel durch die Straßen Wladiwostoks zurechtgemacht.

»Man sollte sie verscharren«, sagte Ükorok, »ein ekelhafter Anblick.«

Die Bauern luden ihre Habseligkeitcn auf die Wagen, Jungen trieben das Vieh aus den Ställen. Aller Augen blickten wie sonst — ruhig, auf die Arbeit konzentriert.

Nur ein weißes Hündchen war toll geworden und kreiste von Hof zu Hof durch die Leichen.

Zu den Partisanen trat ein alter Mann mit einem Gesicht wie ein abgetragenes Schaffell. An Wangen und Stirn, wo Wollbüschel ausgefallen waren, schimmerte rot die Haut durch.

»Ihr führt Krieg?« fragte er Werschinin mit weinerlicher Stimme.

»Notgedrungen, Opa.«

»Wenn ich das so sehe — 's ist nichts mehr los mit den Menschen. Einen so erbärmlichen Krieg hat's noch nie gegeben. Ja, als der Zar zu den Waffen gerufen hat, aber jetzt — hol's der Teufel, sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein.«

»Es ist, wie wenn man lange Zeit gefahren ist, Opa — auf einmal macht der Wagen bums! War schon lange verfault, der Wagen, wir müssen einen neuen bauen, Opa!«

»Was?«

Der Alte neigte den Kopf gegen die Erde und wiederholte, als lausche er auf Geräusche unter seinen Füßen: »Kann nicht verstehen . . . Was?«

»Der Wagen, sage ich, ist zerbrochen!«

Der Alte trat zurück, fuchtelte mit den Händen, als schüttle er Wasser ab, und brummte: »Nein, nein . . . Wagen sind das heute. Der Antichrist ist erschienen, wo sollen da gute Wagen herkommen.«

Werschinin rieh sich das schmerzende Kreuz und blickte sich um.

Das Hündchen winselte noch immer.

Ein Partisan nahm den Karabiner ab und schoß. Das Hündchen rollte sich zusammen, dann dehnte es sich, als erwache es gerade aus dem Schlaf, und streckte alle viere von sich. Es war verendet.   - Wsewolod Iwanow, Panzerzug 14-69. In: W. I., Die Rückkehr des Buddha. Nördlingen 1989 (Die Andere Bibliothek 49 , zuerst ca. 1922)

Dorfstraßen (2)  Direkt neben dem Bistro Chez Lucie führte die Rue Martin-Heidegger in einen Teil des Dorfes hinab, den er noch nicht erkundet hatte. Er schlug diesen Weg ein und sann dabei über die fast absolute Entscheidungsfreiheit nach, die Bürgermeistern bei der Namensgebung der Straßen in ihrer Gemeinde eingeräumt wurde. An der Ecke der Impasse Leibniz blieb er vor einem grotesken, mit grellen Acrylfarben auf ein Blechschild gepinselten Bild stehen, das einen Mann mit einem Entenkopf und einem überdimensionalen Penis darstellte; sein Brustkorb und seine Beine waren von einem dichten braunen Pelz bedeckt. Einer Hinweistafel entnahm er, dass er sich vor der »Klapsmuse« befand, einem Museum für Art brut, das den malerischen Erzeugnissen von Geisteskranken aus der Anstalt von Montargis gewidmet war. Seine Bewunderung für den Erfindungsreichtum der Gemeinde wuchs noch, als er die Place Parmenide erreichte und einen nagelneuen Parkplatz entdeckte - die weißen Farbstreifen, die die für die Fahrzeuge vorgesehenen Plätze eingrenzten, waren vermutlich noch keine Woche alt -, ausgerüstet mit einem elektronischen Parkscheinautomaten, der europäische und japanische Kreditkarten annahm. Im Moment parkte dort ein einziges Fahrzeug, ein wassergrüner Maserati GranTurismo, dessen amtliches Kennzeichen sich Jasselin für alle Fälle notierte. Im Rahmen einer Fahndung war es, wie er seinen Studenten in Saint-Cyr-au-Mont-d'Or stets eingeschärft hatte, eine Grundregel, sich Notizen zu machen - zu diesem Zeitpunkt seines Vortrags holte er immer seinen eigenen Notizblock hervor, ein gängiges Produkt der Marke Rhodia im Format 105 x 148 mm. Man dürfe während einer Ermittlung nicht einen Tag vergehen lassen, ohne sich wenigstens eine Notiz zu machen, hämmerte er ihnen ein, selbst wenn das festgehaltene Detail zunächst völlig unwichtig erscheine. In der Folge der Ermittlung stelle sich fast immer heraus, dass dieses Detail tatsächlich unwichtig war, aber das sei nicht die Hauptsache: Die Hauptsache sei es, aktiv zu bleiben und eine minimale intellektuelle Tätigkeit beizubehalten, denn ein untätiger Kriminalbeamter lasse sich entmutigen und sei dadurch unfähig zu reagieren, wenn plötzlich wichtige Einzelheiten ans Licht kamen.

Erstaunlicherweise formulierte Jasselin, ohne es zu wissen, fast die gleichen Empfehlungen wie jene, die Houellebecq im April 2011 an der Universität Louvain-la-Neuve bezüglich des schriftstellerischen Berufs gegeben hatte, als er sich, übrigens zum einzigen Mal, bereiterklärt hatte, einen Workshop für creative writing zu. leiten.

In südlicher Richtung endete das Dorf am Rond-point Immanuel-Kant, einem Paradebeispiel für städtebauliches Genie: ein einfacher, mit tadellos grauer Schotterdecke versehener Kreisel von großer ästhetischer Nüchternheit, der nirgendwohin führte - keine Straße zweigte von ihm ab, kein einziges Haus war in seiner Nähe errichtet worden.  - Michel Houellebecq, Karte und Gebiet. Köln 2011

Dorf Stra?e

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