orf  »Wird es wohl wieder irgendwie wild?« fragte der Herr Notar nervös und blickte hinüber zu seiner Stenotypistin.

»Ach wo, das ist nur etwas aus dem Leben«, beruhigte ihn die Bäuerin.

»Ja, das«, begann der Bauer ungehalten, »das taugt überhaupt nichts, das ist die reine Kinderei, da holten sie mich als den ersten Gemeinderat, weil sich ein Nachbar daheim mit selbstgebranntem Sliwowitz halb vergiftet hatte. Also gab ich den Rat, daß sie ihn mit den Beinen nach oben an die Leiter hängen sollen, damit das Zeug aus ihm rausläuft. Leider hatte der Nachbar schon verdaut. Da erinnerte ich mich, wie wir es daheim mit dem Großvater gemacht hatten. Und wir gruben den Nachbar in warmen Kuhdung, weil er schon fast kalt war. Wie wir so die letzten Gabeln Mist draufwerfen, höre ich, daß hinter ein paar Zäunen eine Ziege sonderbar meckert. Fragen wir uns, was war das? Und klettern über die Zäune und ertappen den Dorftrottel, den stotternden Bohousek, wie er die Ziege ...«

Der Herr Notar erhob sich halb und beugte sich zum Bauern hin.

Der Bauer flüsterte etwas, und der Herr Notar sackte im Sessel zusammen.

»Und da nahmen wir Peitschen und Knüppel«, erzählte der Bauer laut weiter, »und bleuten den stotternden Bohousek, daß er zu stottern aufhörte. Aber ansonsten, was ist das für ein Leben auf dem Dorf? Kein Theater, kein Kino, kein Hotel. Die Stadt dagegen!«  -  Bohumil Hrabal, Der Herr Notar. In: B. H., Die Bafler. Erzählungen. Frankfurt am Main 1966 (es 180, zuerst 1964)

Dorf (2) »Daß wir sie einmal unter die Erde bringen würden, das hätte ich nicht geglaubt«, meinte ein alter Bauer neben Maigret und schüttelte den Kopf.

Der mindestens Fünfundsiebzigjährige stand mit zwei Gleichaltrigen in einer Ecke der Wirtschaft. An der weißgetünchten Wand über ihren Köpfen prangte das Gesetz über den Ausschank von alkoholischen Getränken und die Bekämpfung der Trunksucht. Die schwarze Kleidung und die frisch gestärkten Oberhemden verliehen den Männern etwas Feierliches, Steifes, und um so seltsamer wirkten die Augen, die aus den tiefgefurchten Gesichtern hervorsahen und einen geradezu kindlich-naiven Ausdruck hatten. Der Stattlichste der drei, ein weißhaariger Patriarch mit langem, seidigem Schnurrbart, der wie die beiden anderen sein Glas in der Hand hielt, schwankte leicht. Jedesmal, wenn er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, stützte er sich mit einem Finger auf die Schulter seines Nachbarn.

Maigret stellte sie sich unwillkürlich auf dem Schulhof vor. Wie Schuljungen lachten und zwinkerten sie einander zu. Sie hatten gewiß alle drei dieselbe Schulbank gedrückt; später hatten sie dann dieselben Mädchen in den Straßengraben gezerrt. Und schließlich hatte jeder von ihnen die Hochzeit der anderen mitgefeiert und war bei den Beerdigungen ihrer Eltern, den Hochzeiten ihrer Kinder und den Taufen ihrer Enkel dabeigewesen.

»Wenn ich bedenke, daß sie beinah meine Schwester hätte sein können! Ich weiß nämlich von meinem Vater, wie oft er mit ihrer Mutter im Heu gelegen hat. Soll ein tolles Weib gewesen sein, die Mutter. Ihrem Mann hat sie ständig Hörner aufgesetzt.«

Galt das nicht für das ganze Dorf? - Georges Simenon, Maigret und die schrecklichen Kinder. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 7, zuerst 1963)

Dorf  (3) Das Village hat am Samstag abend viele Gesichter. Keins davon ist ausgesprochen hübsch, aber niemand schaut allzu genau hin. In einer berüchtigten Broiler-Braterei in der Tenth Street nahe der Seventh Avenue quatscht ein alterer Mann, der aussieht wie ein Kleinstadt-Pfarrer, einen dreizehnjährigen Jungen an. In einer Schießbude in der Cornelia Street kann man jede beliebige harte Droge erhalten, wenn man sich zwischen blutigen Spritzen und den dichtgepackten schrägen Vögeln durchdrängeln kann. Ich saß da mal fast eine Stunde lang auf einer Couch, ehe sie sich plötzlich bewegte. - Kinky Friedman, Greenwich Killing Time. Zürich 1992 (zuerst 1986)

Dorf  (4)  Dörfer Amerikas: rasenbestandene Siedlungen, schattig und grünend, wo die Markierungssteine den Zaun ersetzen — Holzhäuschen, unter den Ästen verstreut und prekär auf den Boden gesetzt. Nichts ist verwurzelt: das Modell eines »blumengeschmückten Dorfs«, wie man sie in den Schaufenstern der Agenturen sieht; würde man draufblasen, würde alles davonfliegen, es blieben nur die Bäume, die älter sind als die Wände, für die sie verwendet werden. Kleine, weiße und neue Kirchen ohne Seele, nicht mehr das Zentrum des Dorfes wie bei uns, sondern eher eine funktionelle Dependance, ähnlich der Post oder dem Mais-Silo - sie stehen irgendwo abseits wie die Plantagen-Kirche an der Ecke eines Zuckerrohrfelds. Die Friedhöfe sind einladende und schattige Haine, die die Steinstelen in großem Abstand auf tiefgrüne gemähte Rasenflächen stellen: nichts Düsteres an diesen Orten; es sind viel eher Asphodelenfelder als die von Kobolden und Wiedergängern heimgesuchten gotischen Grüften Europas. In diesen von Gezwitscher erfüllten paradiesischen Weidelandschaften, in denen nichts mehr vom nagenden Wurm, vom Totentanz oder vom Gericht spricht, kommt einem unversehens wieder die auf diesem Boden entstandene indianische Mythologie in den Sinn, in der die Seelen der toten Krieger als Kolibris wiederverkörpert herumflatterten.  - (grac2)

Dorf  (5)  Vielleicht waren es weniger diese gehäuften Tode als die von früh bis spät umlaufenden Erzählungen davon, die ihr das ganze Dorf, auch am hellichten Tag, mit Schreckgespenstern bevölkerten; denn von ihren eigenen Eltern zu deren Unfalltod die Dörfler, zumindest ihr, dem Kind gegenüber schwiegen, blieben ihr eher nur Lichtspuren, vor allem wohl dank der Großeltern, die von den beiden - und das entsprach den Alten ja selber? - einzig und beharrlich Lebensstationen weitergaben. So ging ihr auch jeweils ein Todesfall im Dorf, den sie mit eigenen Augen sah, auf ganz andere Weise nahe als ein von Dritten erzählter oder, noch ärger, aufgeschnappter: der Mensch, der Nachbar, dessen Sterben, und sei es das jammervollste, sie, das damalige Dorfkind, in der Anschauung, am eigenen Leib, miterlebte, anwesend bis zum letzten Atemzug, würde ihr nie und nimmer später in den Nächten auf der Brust hocken oder das Herz herausreißen und sie am Morgen auf dem Schulweg oder am Nachmittag beim Kühe-auf-die-Weide-Treiben - eine Zeitlang geschah das im Dorf noch, auch durch dies und jenes Mädchen, samt Peitsche und Gummistiefeln - anspringen beim Umkurven einer Scheune, aus den glitschigen Stei­nen der Furt im Bach, aus einem leeren Erdkeller, der von fauligen Rüben stank.   - Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002

Dorf  (6)  «Erstaunlich, diese anheimelnden Örtchen, in denen sich mehr abspielt, als man sich je würde träumen lassen; verbotene Affären, hoffnungslose Liebesbeziehungen, uneheliche Kinder, Frauentausch, Inzucht, Nachbarschaftsfehden, Klassenkämpfe - Dinge, die allerdings nur den Bewohnern offenbar werden. Nach außen schotten sie sich ab, schweigen wie Trappistenmönche, bilden eine gemeinsame Abwehrfront, weil sie eins gemeinsam haben, Lewis: ihr Dorf. Sie gehören alle zu demselben Fußballclub. Sosehr sie sich unter der Woche vielleicht das Leben schwer machen - gnade Gott dem Nachbarort, wenn sie am Wochenende ihre Fußballtrikots anziehen.» - Colin Dexter, Und kurz ist unser Leben. Reinbek bei Hamburg 2000

Dorf  (7)  Die Ursache dieses stummen Zustands ist irgendein Schrecken, und damit meine ich etwas anderes als jene kleinen pedantischen Quälereien - die Bürokratie der Tortur. Eher einen allgemeinen und doch inbegriffenen Schrecken, fast als stünde jenes Dorf, und das wird euch nicht unsinnig erscheinen, auf terrorisiertem Terrain, auch wenn man nicht weiß, von wem oder wie oder in welcher Weise terrorisiert; so als könnte der Schrecken auch eine atembare, ja gesunde und generöse und sogar kräftigende Luft sein, in der winzige Teilchen von Leben fortdauern, vorausgesetzt daß alle unterschiedslos dem Schrecken unterliegen, das Schreckensmal tragen; weshalb sie rennen, kriechen und atmen dürfen, aber auf keinen Fall stöhnen, denn das wäre ja bereits ein Sprechen mit dem Schrecken, ein Ihm-ins- Auge-Sehen, Sich-als-ein-Anderes-Erklären, ein zum Entsetzen fähiges, aber nicht mit ihm identisches Wesen. Kurzum, sie wäre, diese Stille, weniger eine Abwesenheit von Stimmen als eine Abwesenheit von Tränen, und deshalb um so schrecklicher, ganz gewiß. Denn die letzte Annahme ist immer noch diese: wenn sie von Natur aus schweigen, dann ist sie, diese Natur, unnatürlich, anders als alles, was wir unter Natur verstehen, und man wird deshalb auch sagen müssen, daß dieses Dorf ein Ort ist, der jenseits der Grenzen dessen liegt, was man hierzulande Natur nennt, und daß die Rast, das Ruhen, die Müdigkeit und das Herumirren, das euch bis hierher geführt hat, ein Fortschreiten in den Gefilden eines Jenseits ist, das offenbar alles gewohnte Natürliche, ja alles Gewohnte schlechthin entbehrt; und ihr müßt jetzt annehmen, in einer unheimlichen Zauberwelt zu sein, mit wundersamen Geschehnissen und Monstren, obwohl das Monströse sich nur heimlich, im Verborgenen, Verschwiegenen, Zwielichtigen offenbart - in jenem eigensinnigen Zustand, in dem du nicht aufhören kannst zu argwöhnen, daß dort wo Dinge sind auch Lebewesen sind, und daß diese Lebewesen nichts anderes sind als ingeniöse Dinge. Und du wirst fürchten, zu weit weg geraten zu sein, an einen Ort, der keine Verbesserungen duldet, ob du die langsame Strömung durchwatest oder nicht. Trotzdem mußt du dir dieses an diesem Punkt eingestehen: daß etwas, das du beschlossen hattest, Stille zu nennen, jetzt nicht mehr existiert, während etwas anderes - zerfallende Dinge oder fliehende, regierende oder Angst schwitzende Tiere - Klang erzeugt, zweideutig, unregelmäßig und schwach, sehr viel weniger als eine Stimme, aber keine Stille - das nicht. Daß also du, Waffenruhe und Rast suchend, du, niedergeschlagen und müde, nicht etwa den Ort des Nichtgeschehens gefunden hast, sondern einen Ort, der auf irgendeine Weise einem rätselhaften Geschehen geweiht ist. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989

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