oppelwesen    Durch verschiedene Beobachtungen habe ich herausgefunden, daß der Mensch aus einer Seele und einem Tier zusammengesetzt ist. Diese beiden Wesen sind völlig verschieden, aber so ineinander- oder aufeinandergefügt, daß die Seele eine gewisse Überlegenheit über das Tier haben muß, damit man sie unterscheiden kann.

Ich weiß von einem alten Professor - ich erinnere mch seiner von sehr langer Zeit her -, daß Plato die Materie »das andere« nannte. Sehr gut; noch lieber aber möchte ich diesen Namen vorzugsweise dem Tier beilegen, das mit unserer Seele verbunden ist. Denn wirklich ist das andere ebendieser Stoff, der uns in so befremdender Weise belästigt. Im allgemeinen sieht man wohl ein, daß der Mensch ein Doppelwesen ist, aber das kommt, wie man sagt, daher, daß er aus Seele und Leib zusammengesetzt ist; und diesen Leib beschuldigt man ich weiß nicht wie vieler Dinge, gewiß aber ganz ohne Grund, da er ja zu fühlen wie zu denken gleich unfähig ist. Dem Tier muß man die Schuld beimessen, diesem mit Empfindung begabten Wesen, das, ein wirkliches Individuum und völlig von der Seele verschieden, ein gesondertes Dasein führt, seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Neigungen, seinen eigenen Willen hat und nur deshalb über den andern Tieren steht, weil es besser erzogen und mit vollkommeneren Werkzeugen ausgestattet ist.

Liebe Leser und Leserinnen, seid auf eure Vernunft so stolz, wie ihr wollt, aber mißtraut »dem andern« sehr, besonders wenn ihr zusammen seid!

Über die Verbindung dieser beiden verschiedenartigen Geschöpfe habe ich - ich weiß nicht wie viele - Erfahrungen gesammelt. So habe ich zum Beispiel deutlich erkannt, daß die Seele das Tier zum Gehorsam zwingen kann, dieses aber aus Ärger und Rache sehr oft die Seele nötigt, gegen ihren eigenen Willen zu handeln. In der Regel ist die eine die gesetzgebende, das andere die ausführende Gewalt, aber diese beiden Gewalten stehen oft miteinander in Widerspruch. Es ist nun die große Kunst eines genialen Menschen, sein Tier gut zu erziehen, damit es allein gehen, die Seele hingegen, von der beschwerlichen Gesellschaft befreit, sich zum Himmel erheben kann. - Xavier de Maistre, Reise um mein Zimmer. In: Ders., Zwei Reisen um mein Zimmer. München 1968 (Winkler, Die Fundgrube 39, zuerst 1795)

Doppelwesen (2)  Im vergangenen Sommer begab ich mich eines Tages auf den Weg zum Hof. Ich hatte den ganzen Morgen gemalt, und während meine Seele sich an dem Nachdenken über die Malerei erfreute, überließ sie es dem Tier, mich zum Schloß des Königs zu bringen.

Was für eine erhabene Kunst ist doch die Malerei, dachte meine Seele. Glücklich der, den der Anblick der Natur gerührt hat, der nicht ums tägliche Brot zu malen braucht, der nicht einzig zum Zeitvertreib malt, sondern, entzückt von der Herrlichkeit eines schönen Gesichts und dem wunderbaren Spiel des Lichts, das sich in tausend Schattierungen über das menschliche Antlitz ergießt, in seinen Werken den erhabenen Gebilden der Natur nahe zu kommen sucht. Glücklich auch der Maler, den die Liebe zur Landschaftsmalerei auf einsame Spaziergänge führt, der auf der Leinwand die Empfindung der Traurigkeit auszudrücken vermag, die ein düsterer Wald oder eine öde Gegend in ihm wachruft. Seine Werke bilden die Natur nach und geben sie wieder; er schafft neue Meere und schwarze Schlünde, welche die Sonne nicht kennt; auf sein Geheiß treten grünende Haine aus dem Nichts hervor, spiegelt sich das Blau des Himmels in seinen Gemälden wider; er versteht sich auf die Kunst, die Lüfte zu erregen und die Stürme heulen zu lassen. Ein anderes Mal zeigt er dem Auge des entzückten Beschauers die köstlichen Gefilde des alten Sizilien: man sieht erschreckte Nymphen durch Rosengebüsch vor einem verfolgenden Satyr fliehen; majestätische Tempelbauten erheben ihr stolzes Haupt über den heiligen Hain, der sie umgibt. Die Einbildungskraft verliert sich in den stillen Wegen des idealen Landes; blaue Fernen fließen mit dem Himmel zusammen, und die ganze Landschaft, die sich in den Fluten eines ruhigen Flusses spiegelt, gewährt einen Anblick, den keine Sprache beschreiben kann.

Während meine Seele diesen Gedanken nachhing, ging »das andere« seines Weges, und Gott weiß, wohin es ging! - Statt sich, wie ihm geboten war, zum Hof zu begeben, war es so weit nach links abgeschweift, daß es in dem Augenblick, da meine Seele es wieder einholte, vor der Tür der Frau vom Hautcastel stand, eine halbe Meile vom königlichen Schloß entfernt.

Ich überlasse es dem Leser, sich vorzustellen, was sich ereignet hätte, wenn es ganz allein zu einer so schönen Dame gekommen wäre. - Xavier de Maistre, Reise um mein Zimmer. In: Ders., Zwei Reisen um mein Zimmer. München 1968 (Winkler, Die Fundgrube 39, zuerst 1795)

Doppelwesen (3)  In einem alten Traktat über Zwerge und Hofnarren steht zu lesen, daß der Hofnarr des Königs Jakob IV. von Schottland, ein Doppelwesen oder, anders ausgedrückt, ein siamesisches Zwillingswesen war. Von den Menschen, aus denen er zusammengesetzt war, war der eine sehr gescheit und lebhaft und ein guter Musiker, so daß er sowohl durch seine äußere Erscheinung wie durch seinen Geist die Hofdamen bezauberte. Der andere dagegen war ein linkischer Idiot und Trunkenbold, so schlimm, daß er schließlich seinen Bruder umbrachte und darauf selbst als Opfer seiner Trunksucht starb. Diese beiden Wesen verstanden einander ihr Lebtag nicht; sie prügelten sich und rissen sich in einem fort die Flasche aus der Hand: der eine, um daraus zu trinken, der andere, um sie wegzuwerfen.  - (cav)

 

Wesen Verdoppelung

 

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