oppelgroßmaul
Der Harn der Vögel ist weißlich.
Er fällt mehr oder minder zufällig auf das Blattwerk, unter dem
die Bernsteinschnecken ihr friedliches Dasein führen. Natürlich
sind sie Feinschmecker und verschmähen
es, beschmutzte Blätter zu fressen, aber der lange Regen der
Nächte, der hingeatmete Tau löst die Harnflecke auf, schwemmt
sie fort, und zurück bleibt zuweilen ein unsichtbares Korn, das
die Schnecke ohne Bedenken mitverspeist, weil sie kein Vergrößerungsglas
besitzt. Wollten wir, die wir darüber verfügen, es jedesmal benutzen,
wenn wir uns zu Tisch setzen, uns würde vor Ekel
der Appetit vergehen. Es ist höchst selbstverständlich, daß unsere
Schnecke, die augenscheinlich auch
schlecht sieht, keine Umstände macht. Aber was sie sich einverleibt
hat, ist ein Ei des schrecklichen Drachen
Leukochloridium paradoxum. Der Drache Leukochloridium paradoxum
ist ein Leberegel. Man könnte ihn auch einen Hodenegel oder Eierstockegel
nennen; ihm ist es gleichgültig. Er richtet es auf alle Fälle
so ein, daß seine Anwesenheit parasitäre Komplikationen nach
sich zieht, die Geschlechtsstoffe werden aufgelöst und die Leber
allmählich vollständig zerstört. Selbstverständlich paart sich
bei diesem Vernichtungsprozeß Eile mit Weile. Wirt und Schmarotzer
können vielmals miteinander überwintern, der eine im anderen.
Unser Drache ist ein Verwandlungskünstler,
und es ist kein Wunder, daß er in anderer Gestalt den Namen Doppelgroßmaul,
Distomum makrostomum, führt. Es ist nicht ganz leicht, im Lebensweg
des Doppelgroßmauls Anfang und Ende zu finden. Es widerstrebt
mir ein wenig, gleich mit dem grauenhaften Wunder der Gestalt
Leukochloridium paradoxum zu beginnen. Da aber die Bernsteinschnecke
mit dem lieblichen Namen Succiney putris unwissenderweise ein
Ei des Doppelgroßmauls gefressen hat, sei es denn. Im Darm der
Gelben am Brunnen entwickelt sich eine kleine bewegliche Larve,
die sich durch die Darmwand hindurchbohrt und bald in der Leber
oder den Geschlechtsdrüsen landet. Dort verwandelt sich der Eindringling
in einen Sack, der anfänglich kugelrund
ist. Nach Verlauf dreier Wochen entstehen auf dessen Oberfläche
Buckel, die sich nach und nach zu langen, keulenförmigen Scheiben
entwickeln. Diese wiederum bilden Seitenverzweigungen, und die
Organe der Schnecke werden von einem üppigen, ausgreifenden Wurzelnest
durchwebt, gleichsam, als wäre Doppelgroßmaul gar nicht er selbst,
sondern ein Pilzgeflecht. In den Wucherungen
entsteht nun die zahlreiche Nachkommenschaft des verwandelten
Drachen, dessen proteische Intelligenz der Gegenstand dieser
makabren Erzählung ist. Die Nachkommenschaft sammelt sich, immer
noch im Leibe der lebendigen Schnecke, zu Heerscharen und wandert
in die Spitze der keulenförmigen Schläuche, die nun gewaltig
anschwellen, so daß sie als walzenförmige Gebilde erscheinen,
die nur noch mittels einer Art hohler Drähte mit dem Walzwerk
verbunden sind. Die Zylinderschläuche füllen sich mehr und mehr,
werden praller und praller, und weil nun, nach Ansicht der übergeordneten
Intelligenz, kein weiterer Raum mehr in ihnen vorhanden ist,
wird ihre bleiche Farbe durch Farbenpracht ersetzt. Der Leberegel,
der niemals hat sehen können, auch nicht weiß, was eine Insektenlarve
ist, beginnt zu malen und malt auf den Walzensack, dessen Form
man auch mit der eines Torpedos vergleichen könnte, das hervorragende
Abbild einer Raupe. Malt grüne Streifen auf gelben Grund, malt
einen Kopf in schönem Rot. Die Drähte oder Schnüre, die das Torpedo
halten, werden gelockert, ein Strom von Hormonen wird ausgestrahlt,
so daß das Muskelwerk der Schnecke in zitternde Bewegung gerät,
als ob Liebespfeile geschleudert worden wären, und das furchtbare
Geschoß bohrt, windet sich, wird gebohrt und gewunden, gestoßen,
getrieben, rhythmisch befeuert, bis es früher oder später in
eines der Fühlhörner der Schnecke eindringt, das es gräßlich
erweitert. Nun beginnt die Hormondusche unablässig auf die gepeinigten
Muskeln des Fühlhorns zu wirken; der Kolben pulsiert hin und
her, regelmäßig, fünfzig- bis hundertmal in der Minute, je nach
der Temperatur, zuckt die gefälschte Larve im Fühlhorn vorwärts
und zurück, oft deren zwei in einem Fühlhorn, und zwei in zweien,
und täuscht eine beunruhigte Raupe vor. - Hans Henny
Jahnn, Der gehorsame Kuckuck. In: Lesebuch. Deutsche Literatur
zwischen 1945 und 1969. Hg. Klaus Wagenbach. Berlin 1980 (zuerst
1952)