olce
vita
Trost fand sie dann keinen mehr, sie konnte
das Wasser nicht halten. Trost fand sie dann keinen mehr, bis der Arzt ihr die
Spritze gab. Trost fand sie dann keinen mehr, sie lehnte gegen die Ladentür.
Die blauen Augen handgemalt, das Fieberbild ständig vor Augen, visierte die
gegenüberliegende Straßenseite an, (»Milieu war auch Handarbeit«) : Handarbeitengeschäft,
mit vorgedruckten Stickereideckchen im Schaufenster. Visierte den Himmel an,
irgendetwas war da immer zu sehen. Aber sie war in ihrer Lebenslust dann gebrochen,
ihre Augen ein Bettel-, ein Myrrhenfeld. Die in einen Traum hineinblickenden
Augen, halboffenen blaßrosa Lippen. Dann ist die blaue Schatulle das Herz auf
dem Tisch, sie hält die Arme auf, ich fliege in ihre Arme, in eine Vertrautheit
von ihr, die Erinnerung unter dem Fuß, das ganze getroste Spektrum : etwas von
drüben, nicht zu ergründen. Mit der Rettung mit tausend Küssen, tausend Küsse
und Firmament. Trost fand sie dann keinen mehr, sie konnte das Wasser nicht
halten. Das Kino, die Konditorei, sie lehnte gegen die Ladentür, blinzelte in
die Sonne. Trost fand sie dann keinen mehr, die Kissen ohne Bezüge, das Federbett
ohne Laken, Trost fand sie dann keinen mehr. Sie schrie dann nicht, sie schrie
dann nicht mehr, stöhnte nur noch, wälzte sich in Schmerzen, blickte zur Pendeluhr
an der Wand gegenüber, wartete sie noch auf etwas, auf jemand? Trost fand sie
dann keinen mehr, sie hatte so gerne gelebt, Kino und Konditorei, Grammophonkunst,
Jade und wildes Glück. Sie hatte das Enkelkind so geliebt, mich, das Enkelkind
ist ihr ein Trost, sie liebt das Enkelkind, mich, stellt es im Februarwinter
27 auf eine Parkbank, Rubenspark, läßt sich mit ihm fotografieren : offener
Pelzkragen, heißblütig, fülliges Dekolleté usw., hält die weiße Kinderhand in
der ihren, behutsam, die weiße Kinderhand (Porzellan), auf einer vergrößerten
Photographie, die weiße Kinderhand (Porzellan) ein wenig hochgezogen, an sich
gezogen, an ihre linke Brust. Diese ergreifende Herzbewegung : Haltung : Still-Haltung,
auf das Photo gebannt, für immer, der ausgeschlagene Fellkragen, das füllige
Dekolleté, die schöne Großmutter, lächelnd. Weiße
Wallfahrten, grünendes Alphabet. Ich war nicht dabei als sie starb, ich habe
keine Erinnerung bewahrt an das Begräbnis, vielleicht war ich ausgespart. An
der Hand der Mutter wenige Tage danach, in der Straße eine Frau kommt auf uns
zu und fragt wie es ihr gehe. Jetzt geht es ihr gut, sagt meine Mutter, jetzt
ist sie getröstet. Fand keinen Sinn darin, damals, prägte mir alles ein, über
die Jahrzehnte hinweg. Sie verfaulte dann bei lebendigem Leib, auf der Pritsche,
das Wasser war wirklich abgestiegen. Wir haben kein Geld mehr, Existenzminimum.
Wir haben kein Geld mehr für das Begräbnis, wir müssen Geld leihen für das Begräbnis.
Die Familie ging dann zu Bruch, Laden und Landhaus, die Wahrheitssekunde, nächtliche
Reise im Tragsessel, schrecklich starrend zur Seite, Mondverklärung, ich komme
aus den Ruinen. Ich folge ihr nach, ich gehe schon lange in ihrer Spur,
ich gehe in ihrer Spur, die zarte Straße von Biscaya. Ich erinnere nicht, ob
sie fromm war, aber Trost fand sie keinen mehr, bis der Arzt ihr die Spritze
gab, sie sollte nicht länger leiden, darüber war die Familie einig, endlich,
zuletzt. Ich war nicht bei ihr als sie starb, ich weiß nicht, ob ich weinte,
als ich erfuhr, daß sie starb, ihre dünne Hand auf der schmutzigen Decke, sie
verweste bei lebendigem Fleisch, das stank und faulte, sickerte in den Boden,
lassen wir das. - Friederike Mayröcker,
Magische Blätter III. Frankfurt am Main 1991 (es 1646)
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