iva    Marie ist heut wieder zu uns gestoßen, nachdem sie zwei Monate ihr Glück in der Vorstadt versucht hat. Die Marie ist eine Diva.i

Sagt sie. Eine resolute Frau von zweiundsiebzig Jahren. Zermantschtes Gesicht, wie man es höchstens von Rummelboxern kennt. Die senile Geschichte von einer, die sich auszog, das Lieben zu lernen. Sie besitzt ein Foto, das sie mit zweiundzwanzig zeigt. Sehr schön.

Man hat sie aus dem Verkehr gezogen, obwohl die Männer vieles ficken, wenn die Nacht sich hinzieht, und Marie ist die begehrteste Hure des Montmartre gewesen. Sagt sie. Jeder hier erzählt Legenden. Ich glaube jedem.

Marie bietet sich immer noch an. Keiner hat Lust, dieser Künstlerin Bühne zu sein. Arm ist sie dran. Sie friert. Das nippt manchmal an meinem Herz. Aber ich brächte sie nicht unter mich. Pfui Deibel. Den halben Tag redet sie von Paris. •<Henry Miller hat mich geliebt!»

Sagt sie. Ich glaube, sie weiß gar nicht genau, ob das ein Maler oder ein Komponist war. Egal. Wen in Paris hat Henry nicht gevögelt ?

Huren landen selten auf der Rolle. Sind ein sparsames, ängstliches Volk. Marie, die Königin des Quartiers? Vielleicht spricht ihr jetziges Gesicht gerade FÜR ihre Behauptung. Sie erzählt von lukullischen Orgien, von spendablen Großmoguln, gleißenden Perlencolliers, rotem Damast und dem ganzen Zinnober. Vielleicht hat sie ihr Goldenes Zeitalter gehabt. Möglich. Jetzt jedenfalls korrodiert sie, und der Anblick alter Weiber wird mir lästig.  - Helmut Krausser, Fette Welt. Reinbek bei Hamburg 1993