isziplin Er war mir an Jahren bedeutend voran und schien noch älter zu sein, als er wirklich war; kein Rest von Kindlichkeit war ihm verblieben. Seine Züge waren, wenn er wollte, ungemein ausdrucksvoll und konnten jede erdenkliche Empfindung veranschaulichen. Im gewöhnlichen Ruhezustand aber beliebte es ihm, die Maske idiotischer Indolenz zu tragen. Als ich ihn deswegen einmal neckte, erwiderte er: man dürfe auf dieser Welt niemals allzusehr merken lassen, wer man sei.
Harmlos zu erscheinen, genügte ihm nicht: er legte es darauf an, für dumm
gehalten zu werden. Was die meisten Menschen ins Unglück stürze — erklärte er
mir —, sei, daß sie ihre Gaben nicht zu verheimlichen wüßten und lieber paradieren
als sich disziplinieren wollten. Aber derlei sagte er nur zu mir. Er lebte abseits
von den anderen; abseits auch von mir, obgleich ich der einzige in der Pension
war, den er nicht verachtete. Gelang es mir einmal, ihn zum Sprechen zu bringen,
so hatte seine Beredsamkeit etwas Zauberhaftes. Meist jedoch war er schweigsam
und schien düstere Pläne zu wälzen, die meiner Neugier verriegelt blieben. Als
ich ihn fragte: ,Was machen Sie hier?' (keiner von uns sagte ,du' zu ihm), antwortete
er: ,ich nehme meinen Anlauf.' Er behauptete, alle Schwierigkeiten
des Lebens seien überwindbar, wenn man sich im rechten
Moment zu sagen wisse: ,Darauf soll's nicht ankommen!' -
André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (dtv 1106, zuerst 1914)
Disziplin (2) Als Disziplin
bezeichnen wir die Form, durch die der Mensch die Berührung mit dem Schmerze
aufrechterhält. Es kann daher nicht wundernehmen, daß man in dieser Zeit wieder
häufiger auf Gesichter stößt, wie sie noch vor kurzem
nur innerhalb der letzten Inseln der ständischen Ordnungen, vor allem in der
preußischen Armee, diesem mächtigen Bollwerk heroischer Wertungen, anzutreffen
waren. Was man in der liberalen Welt unter dem »guten« Gesicht verstand, war
eigentlich das feine Gesicht, nervös, beweglich, veränderlich und geöffnet den
verschiedenartigsten Einflüssen und Anregungen. Das disziplinierte Gesicht dagegen
ist geschlossen; es besitzt einen festen Blickpunkt und ist einseitig, gegenständlich
und starr. Bei jeder Art von gerichteter Ausbildung bemerkt man bald, wie sich
der Eingriff fester und unpersönlicher Regeln und Vorschriften in der Härtung
des Gesichtes niederschlägt. - Ernst Jünger, Über den Schmerz.
Stuttgart 1980 (zuerst 1934)
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