ing, kosmisches  1 Der wichtigste Teil auf dem Bärenauge ist ohne Zweifel die Spalte im Landesinneren.

2 Alljährlich senkt sich vom Himmel ein riesiges Ding in die Spalte, King Kong und die weiße Frau, das glaubten auch schon die Alten.

3 Das Ding mußte irgendwo im Universum verankert sein. Es war rund, eher oval und sehr lang gestreckt und senkte sich nicht ganz senkrecht von oben, sondern mehr im Winkel von fünfundsiebzig Grad in die Spalte herab, wurde eingeführt und ausgeführt, das glaubten auch schon die Alten.

4 Das heißt, zunächst beachteten sie das Phänomen garnicht. Aber als die Mode der Beobachtung von Naturereignissen aufkam, fiel in einigen Jahrhunderten, wenn zufällig die immerwährende Staub- und Aschenwolke über der Erde, die an der Entstehung der weißen Rassen schuld hat, einmal nicht ganz so dicht und undurchsichtig war, ein gewisses dunkles Ding auf, das sich durch Himmel und Wolken schob, bis in die Spalte, worauf es wieder herausgezogen und wieder hin-eingeschoben wurde und so fort, dann schauderte es die Alten und sie glaubten daran.

5 Der Vorgang war eben nicht vergleichbar mit dem idyllischen Strahlen auf sommerlichen Feldern vom Himmel, wenn die Sonne Wasser zog. Es war ein ganz mythischer Akt eine total mythologische Szene. Sie tauften die Mutter Erde und das Bärenauge war da.

6 Nun begannen die Menschenopfer. Jede Kultur baut sich auf Menschenopfern auf. Zivilisation ist unschädlich, Kultur ist tödlich.

7 Das heißt, es wurden zunächst nur hölzerne und steinerne Nachbildungen von Menschen hergestellt. Man warf sie alljährlich vor dem Erscheinen des riesigen Himmelsgliedes hinab in die Spalte, wo das Glied sich an ihnen stieß, sodaß der Träger des Gliedes über die ganze Welt hinweg stöhnte.

8 Bald aber, etwa zehn Millionen Jahre später, waren die Abbildungen nicht mehr gut genug. Die Fähigkeit der Künstler, nachzubilden, stand in keinem Verhältnis mehr zu den Erfordernissen der schon hoch hinaus gewachsenen Kultur und ihrer Hohepriester. Auch hatten die Staub- und Aschenwolken über dem Bärenauge in letzter Zeit an Dichte verloren, die Trennung der Menschheit in weiße Menschen und niedere Rassen war nahezu vollzogen, und man sah nun deutlicher und mit Erschrecken das alljährliche unverständlich-mythische Wüten des Gliedes im Inneren der Insel.

9 Auch Henry Tompson erschrak. Er hatte erfahren, daß die Homoniden nicht eine Million Jahre alt waren, wie man ihm gesagt hatte, auch nicht zwei oder drei Millionen Jahre, wieman sich später korrigiert hatte, sondern zwölf bis zwanzig Millionen Jahre, wie man ihm nun mitteilte.

10 Henry Tompson erschrak. Dort, wo er lag, festgebunden, geknebelt und zu jeder Bewegung unfähig, senkte sich tief in die Erde der Insel hinein die abgrundtiefe Spalte. Von oben aber drohten noch immer die himmlischen Mächte. Würden sie ihn zerstoßen mit der Gewalt von Mörsern?

11 Einmal hatte Henry einen Lacher zusammengeschlagen. Dann wieder hieß es, er könne für solche Handlungen juristisch nicht belangt werden. Man mußte ihn einfach in die DDR rüberschicken!

12 Wir wechselten die Perspektive und Henry ging nun aus dem Haus in dem er wohnte. Er erschrak. Er hatte etwas vergessen mitzunehmen und im gleichen Augenblick, als er daran dachte, mußte er auch an die Wohnung seiner Vermieterin und an diese selbst denken.

13 Tompson hatte die Wohnungstür kaum einen Spalt breit geöffnet, als ihm schon der alles beherrschende Gestank von Hundepisse entgegenstank.

14 Die Verwüstung der Museen, Erstürmung der Kirchen, Beseitigung der Schulen, Abschaffung der Familien, Verweigerung der Wehrpflicht und Arbeitsaufnahme, Blindheit gegenüber Waschmittelreklamen, Kenntnis des Südens außerhalb von Vertragshotels, Wiederentdeckung der Natur auch in Form bebauter Städte.

15 Die Polizei suchte nach Haschisch oder kleinen Mädchen auf Trebe unter sechzehn, aber die Frau im Hause, die ihnen freundlicherweise ein großes Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, das nur mit einigen Matratzen möbliert worden war, höchstens noch mit einem zweiflammigen Elektrokocher, fragte immer zuerst nach dem richterlichen Durchsuchungsbefehl und bis der ergangen war, bestand meist keine Verdunklungsgefahr mehr.

16 Als Henry nach gut zehn Minuten vor den heranrückenden Einsatzwagen der Polizei durch einen Hinterausgang der Redaktion flüchtete, hatte er den zuständigen Redakteur geohrfeigt, einen herbeieilenden Bürogehilfen zusammengeschlagen, einer Sekretärin den Inhalt eines Tintenfasses über das Kleid geschüttet, die fraglichen Aufsätze zerrissen, mit dem Feuerzeug angezündet und somit einen kleinen Stubenbrand entfacht, den Umbruch der kommenden Ausgabe untauglich gemacht, einen niederen Karteischrank umgeworfen und die Kartei durcheinander gebracht.

17 Henry war davon überzeugt, daß es sinnlos war, mit Leuten wie diesen hier über Ansichten zu diskutieren.

18 Gewisse Umbrüche und Veränderungen können wir uns noch nicht einmal aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte heraus gewaltlos vorstellen.

19 Henry hatte als Junge oft einen Onkel besucht, der ein kleiner jüdischer Schneidermeister gewesen war und sich nach seiner Pensionierung einen großen elbischen Sandstein und ein vollständiges Steinmetzwerkzeug gekauft hatte. So oft Henry seinen Onkel besuchte, saß dieser hinter seiner Wohnlaube und hämmerte an dem Stein herum. Er hämmerte an seinem eigenen Grabstein.

20 Damit sollte an einen bis in die Zeit der Aufklärung hinein häufig geübten Brauch angeknüpft werden, der jährlich zu Menschenopfern an der Spalte geführt hatte. Je nachdem welche Doktrin gerade vorherrschend war, hatte man entweder Jünglinge oder Jungfrauen unter Vornahme kultischer Handlungen in die Spalte hinabgeworfen und zu Ehren der Gottheit getötet. Noch jahrzehntelang nachdem das Opfern verboten worden war, gab es öffentliche Diskussionen darüber, ob gewisse Katastrophen, Kriege und andere epochale Ereignisse nicht auf den Zorn der Gottheit zurückzuführen seien, den man erregt habe, als das Opfern verboten worden war.

21 Da lag er nun, gefesselt und geknebelt und konnte nur noch denken und wartete auf das große mythologische Ding, irgendwo aus der Tiefe des Universums, an das er zwar nicht glaubte, für dessen Wirksamkeit es jedoch ausreichte, daß die anderen daran glaubten. Seine Ohren wuchsen in den Himmel, damit er hören konnte, wie das Ding näher kam und sich an fernen Sternen rieb.

22 Das gleiche war auch Henry Tompson in seinem Prozeß vorgeworfen worden.

23 Als das große Ding sich ein gewisses Stück in die Spalte geschoben hatte, begann es ihn zu streifen, dann immer mehr zur Seite zu drängen und schließlich in die vom Morgentau feuchten Seitenhänge der Schlucht zu reiben.

24 Immer mehr trieb ihn das nach unten drängende Ding in die weichen Seitenteile der Spalte im Landesinneren der Insel, wo ihn glitschige Feuchtigkeit umgab. Er lag in schlüpfriges, schleimiges Gewebe gepreßt und verlor den Atem. Er war ganz eingehüllt von einer warmen, nassen, weichen Schicht, außerhalb derer sich das große Ding vom Himmel langsam und mächtig, kraftvoll und stetig, auf und ab bewegte. Ein saugendes Geräusch drang bis zuletzt an sein Ohr. Ein Kullern und Rollen. Manchmal entwich Luft unter kleinen Schallexplosionen unter dem Druck des Dinges in Falten und Spalten und kleinen Nebenhöhlen. Solcherlei war die Begleitung von Henrys langsamem und sanftem Verdämmern. Als er gefunden wurde, war er schon tot.   - (baer)