ilemma  Um den absoluten, totalen, unversöhnlichen Charakter des Dilemmas zu begreifen, in dem die Menschen des 16. Jahrhunderts sich gefangen fühlten, muß man sich gewisse Ereignisse in Erinnerung rufen. Auf die Insel Hispaniola (heute Haiti und die Dominikanische Republik), wo von den etwa hunderttausend Eingeborenen, die es im Jahre 1492 hier gab, ein Jahrhundert später nur noch zweihundert lebten und mehr am Entsetzen starben, das sie gegenüber der europäischen Kultur empfanden, als an Pocken und Schlägen, entsandten die Kolonisatoren eine Kommission nach der anderen, um etwas über ihre Natur zu erfahren. Wenn es wirklich Menschen waren, mußte man dann in ihnen die Nachfahren der zehn verlorenen Stämme Israels sehen? Oder Mongolen, die auf Elefanten hergekommen waren? Oder Schotten, die es vor Jahrhunderten im Gefolge des Prinzen Modoc hierher verschlagen hatte? Waren sie Heiden oder stammten sie von rückfälligen Katholiken ab, die der Heilige Thomas getauft hatte? Man war sich nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um Menschen handelte und nicht vielmehr um teuflische Kreaturen oder Tiere. So wenigstens empfand es König Ferdinand, als er im Jahre 1512 weiße Sklaven nach Westindien bringen ließ, nur um die Spanier daran zu hindern, Eingeborene zu heiraten, »die weit entfernt sind, vernunftbegabte Wesen zu sein«. Die Bemühungen von Las Casas, der die Zwangsarbeit abschaffen wollte, rief bei den Siedlern weniger Empörung als völliges Unverständnis hervor: »Soll es also nicht länger erlaubt sein, Lasttiere zu benutzen?« riefen sie.

Die mil Recht berühmteste Kommission, die der Mönche des Hieronymitenordens, zeichnete sich nicht nur durch eine Gewissenhaftigkeit aus, welche die kolonialen Unternehmungen seit 1517 längst verlernt haben, sondern auch durch das Licht, das sie auf die Geisteshaltung jener Epoche wirft. Im Verlauf einer wahren psycho-soziologischen Untersuchung, die nach den modernsten Gesichtspunkten durchgeführt wurde, hatte man die Siedler befragt, ob die Indianer ihrer Meinung nach »in der Lage sind, sich wie kastilische Bauern selbst zu ernähren«. Alle Antworten waren negativ: »Bestenfalls ihre Enkel, aber die Eingeborenen sind so lasterhaft, daß man daran zweifeln darf. Der Beweis dafür: sie fliehen die Spanier, weigern sich, ohne Entgelt zu arbeiten, treiben aber andererseits die Perversität so weit, alle ihre Güter zu verschenken; sie lehnen es ab, ihre Kameraden zu verstoßen, denen die Spanier die Ohren abgeschnitten haben.« Und die einhellige Schlußfolgerung lautete: »Für die Indianer ist es besser, als Menschen in Gefangenschaft zu leben denn als Tiere in Freiheit.«

Ein nur wenige Jahre jüngeres Zeugnis setzt den Schlußstrich unter diese Anklage: »Sie essen Menschenfleisch, kennen keine Gerechtigkeit, laufen nackt herum, essen Flöhe, Spinnen und rohe Würmer . . . Sie haben keinen Bart, und wenn ihnen zufällig Barthaare wachsen, zupfen sie sie sofort aus.« (Ortiz vor dem Consejo de las Indias, 1526)

Zur gleichen Zeit pflegten im übrigen die Indianer auf einer benachbarten Insel (Puerto Rico, nach dem Bericht von Oviedo) Weiße zu fangen und zu ertränken, um dann wochenlang bei den Ertrunkenen Wache zu halten, um festzustellen, ob sie verwesten oder nicht. Aus diesem Vergleich der beiden Untersuchungen ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: die Weißen beriefen sich auf die Sozialwissenschaften, während die Indianer eher den Naturwissenschaften vertrauten; und während die Weißen verkündeten, daß die Indianer Tiere seien, begnügten sich die Indianer lediglich mit der Vermutung, daß die Weißen Götter sein könnten. Bei gleicher Unkenntnis auf beiden Seiten war das letztere Verhalten gewiß menschenwürdiger. - (str2)

Dilemma (2) Der Mann nagelt eine Unzahl von Beschlägen. Er schwitzt dabei unmäßig und hält die Frau eisern umklammert, damit sie nicht entwischt. Er speichelt sie ganz ein, als wollte er sie als Beute essen. Die Frau spricht nicht mehr, sondern stöhnt jetzt auch, der Eifer ihres Partners hat sie angesteckt. Sie winselt im Falsett eine Serie sinnloser Einzelwörter. Sie pfeift wie ein Murmeltier auf der Alpe bei Witterung eines Feinds. Sie verankert die Hände tief im Rücken ihres Gegenübers, damit dieses ihr nicht entwischt. Damit sie nicht so leicht abgeschüttelt werden kann und auch später noch, ist die Pflicht getan, mit einer Zuneigung oder einem Scherzwort bedacht wird. Der Mann werkt im Akkorde. Er schraubt sein Limit hoch. Es ist nach langer Zeit die erste Gelegenheit für ihn mit einer Eingeborenen, und er füllt die Gelegenheit mit hektischer Aktivität. Über dem Paar graust es den Baumwipfeln. Der Nachthimmel scheint unter dem Wind noch lebendig zu sein. Der Türke kann es offenkundig nicht mehr so lange zurückhalten, wie es ihm vorgeschwebt ist. Er kehlt etwas aus sich hervor, das nicht einmal mehr Türkisch zu sein scheint. Die Frau feuert ihn in der Zielgeraden mit hopp an.

In der Zuschauerin arbeitet es zerstörerisch. Es zuckt ihr in den Pfoten, sich in den aktiven Dienst stellen zu lassen, doch wenn man es ihr verbietet, wird sie davon wieder Abstand nehmen.

Sie wartet, daß es ihr dezidiert verboten wird. Ihre Handlungen verlangen nach einem festen Rahmen, in den man sie spannen kann. Sie macht, ohne daß die beiden es ahnen, aus deren Zweiergruppe eine Dreiergruppe. Irgendwelche Organe in ihr arbeiten plötzlich, ohne daß sie es kontrollieren kann, in doppeltem Tempo oder noch rascher. Ein starker Druck auf der Blase, ein lästiges Leiden, das sie immer überkommt, wenn sie sich aufregt. Immer im ungeeignetsten Augenblick, obzwar hier kilometerweit Landschaft wartet, diesen natürlichen Drang und seine Resultate spurlos verschwinden zu lassen. Die Dame und der Türke machen ihr eine Tätigkeit vor. Erika reagiert unwillkürlich mit einem leisen Rascheln in den Zweiglein. Wollte sie das Rascheln oder nicht? Es wird immer ärger mit dem Drang, der von innen herausdrückt. Die Zuschauerin muß ihre kauernde Position ein wenig erleichtern, damit dieser juckende, ziehende Drang besänftigt wird. Es ist sehr dringend.   - Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1989 (zuerst 1983)

Dilemma (3, funktionierendes) Die Königstochter unterbrach den Prüfling. Wieder durchgefallen. Sie sieht schon schwarz für ihn. Sie inszeniert die dritte Aufgabe. Vom Bettrand fällt sie über Anselm her und tut, als heule sie. Sie weiß, wie wertvoll ihr Mann ist, jappst sie. Jawohl, sie quält ihren Mann, sie macht ihm alles kaputt; sie sagt, was er nicht hören will; sie liest medizinische Bücher; was ihr imponiert, reibt sie ihm hin; sie weiß genau, was er nicht erträgt, aber er fordert das doch heraus, man kann ihn nur quälen; wenn es ihm wenigstens Spaß machte, gequält zu werden, aber nicht einmal das, er kneift, nennt sie eine Nutte, darüber freut sie sich, endlich! denkt sie, endlich läuft er an! aber das ist schon sein letztes, sein schrecklichstes Wort, und wenn sie ihn bittet, so weiterzureden, sie spüre schon ein kommendes Glück, dann schaut er sie traurig an, nimmt die Decke, schleppt die Decke müde aus dem Zimmer und am nächsten Morgen entschuldigt er sich, er! begreift man das, er entschuldigt sich! sie begreift es nicht, sie weiß doch, daß sie, sie allein schuldig ist, sie will bestraft werden, und er, er entschuldigt sich: so machen sie einander kaputt, so hat sich das eingespielt, ein funktionierendes Dilemma, durch ihre Schuld. Und was meint Anselm zu so einer Frau? Das wird immer schwieriger, findet Anselm. Wenn er jetzt sagt: so eine Frau gehört regelmäßig verprügelt, dann ruft sie: Ja-ja! Und ihr Mann, der Bruder in Bern, ist dann der Schuldige, weil er nicht prügelt. Und zuguterletzt, muß Anselm selber einspringen. Sagt er aber: diese Frau muß nicht verprügelt werden, die kann ja nichts dafür! dann ist auch der Bruder schuld. Sobald eine Frau etwas darstellt, ist der Mann schuld.  - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966

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