Dienstverpflichtung   Alle Hinweise darauf, wie seine Laufbahn begonnen hatte, waren aus seinen Gesprächen mit dem Major ausgespart geblieben ... W. meinte seine Laufbahn als Mitarbeiter der »Firma« (es war dies der allgemein gebräuchliche Ausdruck/ den die Angehörigen der Institution anscheinend selber in die Welt gesetzt hatten) ... er hatte sich schon immer gefragt, ob Feuerbach davon überhaupt etwas wußte. Er selbst hielt diese Gedächtnisschwäche für ein Ergebnis seiner überlangen Schlafphase; diese Zeit wurde offenbar genau deshalb so bezeichnet, sie diente dazu, alle Gründe für das Dasein als »Mitarbeiter« zu verwischen, und zwar so vollkommen, daß es aussah, als habe man diese Position im Traum gewonnen... also, nach Freud, im Ergebnis einer Wunscherfüllungs-Phantasie. - Es war schwer zu sagen, auf welche Weise dies geschah: Scheinbar mußte es in der Vergangenheit jedes angehenden Mitarbeiters Momente geben, die er glaubte verschweigen zu müssen, weil sie ihm wie irreparable Fehlhandlungen vorkamen; es mußte ein Fehler sein, der geeignet war, zu lang dauernder Reue zu veranlassen. Wenn die Folgen nun in keinem Verhältnis zu ihrer Ursache standen und dem Patienten sein Vergehen, oder seine Verfehlung, als eine Art Lebenskatastrophe erschien, mit der er nicht gut leben zu können glaubte, so war die ideale Voraussetzung für eine Abhängigkeit von der Firma gegeben... notfalls galt es sie erst zu erreichen, indem man das Schuldbewußtsein des Patienten schürte. Der Schlaf des Patienten diente nun der Heilung von seiner Gewissensnot, er erwachte mit dem Glücksgefühl, ein wertvoller und schuldloser Mensch zu sein ... und nach Beendigung dieser Phase umgab ihn ein hermetischer Raum tiefsten Schweigens über seine Tat. -War es in W.s Fall überhaupt eine Tat? Eben dies zu erfahren, verhinderte das hermetische Schweigen.

Kein Wunder, daß er auf die Idee kam, all jene Katastrophen im Vorleben der Firmen-Angehörigen seien minutiös geplant und sorgfältig aufgebaut worden. Die Firma war die moralischste Institution der Welt, sie registrierte pedantisch jede Verfehlung, die sich entwickeln ließ. Und wenn W. genau überlegte, kam er auf den Gedanken, daß darin ihre einzige und alleinige Funktion zu finden war: im Sammeln strafwürdiger Faktoren, oder solcher, die so aussahen, für jedes von ihr ausgesuchte Subjekt. Und da praktisch jedes Subjekt für den Dienst als Mitarbeiter in Frage kam, war es die nicht-enden-wollende Aufgabe des Apparats, Verhältnisse herzustellen, in denen prinzipiell für jedermann ein Reservoir strafwürdiger Faktoren bereitstand. Und wenn der utopische Zustand eintrat, in dem keine Vergehen mehr vorkamen, oder kaum noch welche, dann mußte das Limit auf ein immer niedrigeres Maß gedrückt werden, so daß schließlich fast jede Handlung als ein Vergehen gewertet werden konnte. Was würde, wenn diese Ordnung einmal zu Ende war, aus ihrem Boden für eine Saat von Vergehen aufschießen .., ich mochte nicht daran denken: jedenfalls waren wir schon aus diesem Grund notwendig.

Es konnte natürlich keinesfalls um die Bestrafung von jedermann gehen, es ging um die Dienstverpflichtung von jedermann. Nur so war die Frage nach dem Ziel jedes der Vorgänge zu beantworten/ nur aus diesem Grund waren sie installiert worden... j eder Vorgang hatte nur das Ziel, eine möglichst lange Reihe (am besten eine unendliche Reihe) weiterer Vorgänge nach sich zu ziehen, - und jeder Vorgang mußte mit der Einreihung in den Dienst der Organisation enden.

Die Wirklichkeit dieses Apparats ist der Versuch, einen Staat von Mitarbeitern zu schaffen, dachte W.; er dachte es in den trägen, verworrenen Momenten, in denen er aus dem Halbschlaf auftauchte. Und wenn man die ganze Geschichte auf diesen Nenner bringt, dann klingt es überhaupt nicht besonders gefährlich.   - (ich)

Verpflichtung Rekrutierung Dienst


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