ichten  Der Dichter Ernesto pflegte seine Gedichte solcherart zu komponieren, daß er die Wörter als Lose zog; das heißt, er zog sie tatsächlich und leibhaftig aus einer großen Urne mit Handkurbel, die er sich eigens hatte anfertigen lassen und die so ähnlich aussah wie jene, die bei der Lotterie gebräuchlich sind, oder wie jene Zylinder, in denen man in guten Zeiten Kaffee röstete, oder auch wie eine Mehltrommel guten Angedenkens. Darin befanden sich, auf Kärtchen vermerkt, bei Gott nicht alle Wörter der Sprache, aber doch eine erkleckliche Anzahl poetischer und prägnanter, im vorhinein sorgfältig, und dies wiederum nach statistischen Kriterien beziehungsweise nach ihrer Häufigkeit in den Werken der größten Dichter ausgesuchter Wörter. Und was die Urne gebar, richtete sich dann Ernesto selbstverständlich auf seine Art her, fügte Bindewörter und Verknüpfungen ein, änderte nach Bedarf ein Geschlecht, eine Person, eine Verbalform; kurz, nahm also jene kleinen Schönheitskorrekturen vor, die ihm unumgänglieh oder besonders angebracht erschienen (eine im übrigen schöpferische Handlung). Letzten Endes war er ein klassizistischer Dichter: so akzeptierte er schon auch ein gewagtes und ausgefallenes Bild, verlangte jedoch, daß ein Gedicht in jedem Fall irgendeinen Allgemeinsinn besaß. Kamen zum Beispiel aus der Trommel die Wörter erleuchte, azur und Ewigkeit, die für sich genommen und in solcher Anordnung nichts bedeutet hätten, konnte er daraus einen Vers machen, wie etwa Erleuchtet (Imp. oder Präs. Ind.) die azurne Ewigkeit oder auch Ich erleuchte die azurne Ewigkeit oder schließlich Ich erleuchte mich mit azurner Ewigkeit; und kamen die Wörter schläft, Licht und Augen: Es schläft das Licht deiner Augen oder gar Ich schlafe im Licht deiner Augen (stets deiner, wendet sich doch ein Dichter stets an ein weibliches Wesen). - (land2)

Dichten (2)   Frau Julia Pelz, selber Dichterin und Verlegergattin. Sie weist, wie ich von Professor Silberfuchs weiß, bei jedem Gespräch darauf hin, daß ihre Lyrikbände nicht bei ihrem Mann erschienen sind, sondern bei Suhrkamp. Daß das jeder weiß, weiß sie auch. Daß sie immer darauf hinweisen muß, wird, wenn sie erwähnt wird, immer als ihre Charakteristik dazugesagt. Silberfuchs: Wenn sie sich von ihrem Mann verlegen ließe, könnte sie's gleich bleiben lassen. Und fügte leise, obwohl kein Mensch in der Nähe war, hinzu: Das sollte sie, sagen manche, sowieso. Er, sagte Silberfuchs, sage das nicht. Wenn jemand schon Gedichte schreibe, dürfe er die auch gedruckt sehen. Das sei ein Menschenrecht. Gedichte zu schreiben sei sowieso Ausdruck einer weitreichenden, jedes Mitgefühl verdienenden Schwäche. Die könne, wenn überhaupt, dann nur durch Gedrucktwerden gelindert werden.   - Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002
 
 

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