evisenbeschaffung
Nun leerten sich plötzlich die Wohnungen, von heute auf morgen konnte
es geschehen, daß man allein in einem Haus voller unbewohnter Räume saß, und
am Abend fielen die marodierenden Nachbarn ein, um die leeren Pfandflaschen
fortzuschaffen. Die Möbel ließ man stehen, weil sie sich, in dieser Zeit des
Überflusses an vakantem Mobiliar, schwer absetzen ließen. Wenn C., was immer
öfter der Fall war, gut eingestimmt war auf den Wahnsinn, der rings um ihn stattfand,
neigte auch er zu der Idee, sich endlich einsperren zu lassen, sich zermürben
und sodann, für das übliche Lösegeld, deportieren zu lassen. Allerdings hatte
er bisher die Anstrengung gescheut, die nötig war, einen Käufer für sich zu
finden, oder eine Institution, die für ihn zu zahlen bereit war; außerdem wußte
er, daß der Versuch einer Kontaktaufnahme zu diesem
Zweck sehr gefährlich war: dies konnte von der Verwaltung geradezu als ein Akt
von Sabotage gewertet werden, weil man damit eine geheimnisvolle Finanzpolitik
unterlief. Es sollte indessen seit einiger Zeit - man konnte es aus Kreisen
hören, die sich informiert glaubten - nicht mehr ganz einfach sein, verkauft
zu werden, die Schwierigkeit dabei war eine zweischneidige: gesucht waren im
Ausland rar gewordene, möglichst intakte Personen, für die jedoch - da sie die
Verwaltung nur mit einem weinenden Auge ziehen ließ - ungeheure Summen aufgewendet
werden mußten, und diese Summen wurden, wie es hieß, immer höher. Weniger intakte
Personen, stark zermürbte, also fast untüchtige Personen, geistesgestörte oder
demoralisierte Exemplare kosteten dagegen viel weniger, bei Abnahme höherer
Stückzahlen, oder bei regelmäßiger Abnahme, im Abonnement sozusagen, gab es
deutliche Preisnachlässe, doch wurde es, was leicht einzusehen ist, für die
Käufer immer schwieriger, zwischen einem Minimum des geforderten Gebrauchswerts
der Ware und dem möglichst niedrig zu veranschlagenden Taxpreis der Ware die
richtige Mitte zu finden. Sehr schnell hatte die Verwaltung bemerkt, daß die
seit längerer Zeit inhaftierten Personen nur noch für geringste Summen loszuschlagen
waren, daß aber auch für die kürzer Inhaftierten nur sehr bedingt große Beträge
ausgehandelt werden konnten: es war vorgekommen, daß die Verwaltung versucht
hatte, Kurzinhaftierte in schnellem Tempo zu zermürben, um mit diesen Exemplaren
auf das Qualitätslimit zu drücken, es war sogar geschehen, daß Langinhaftierte
mit falschen Pässen, mit der Identität von Kurzinhaftierten ausgestattet worden
waren: diese Manöver wurden sehr schnell ruchbar, da einige der Ausgelieferten
nicht dichthielten und die Tricks aufdeckten ... ohne Rücksicht darauf, daß
sie auf diese Weise den gesamten Konsens gefährdeten und, wenn sie mit der ganzen
Sippe fort wollten, ihre auf den Verkauf wartenden Verwandten in eine verzweifelte
Lage brachten ... und unter Käufergruppen natürlich ein wachsendes Mißtrauen
der Agentur der Verwaltung gegenüber erzeugten. -
Wolfgang Hilbig: Er, nicht ich. In: W.H., Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main
1993
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