eprivation  Anfang November 1970 erschien auf einem Sozialamt in Los Angeles eine nahezu blinde Frau, um eine Unterstützung zu beantragen. Bei sich hatte sie ihre Tochter. Es war ein blasses, ausgemergeltes, nervöses und ängstliches Kind mit schütterem Haar und dunkel verfärbten Zähnen, das nur unsicher stand, vornübergebeugt ging wie eine alte Frau, einen Fäulnisgeruch ausströmte und kein Wort sprach, sondern nur unverständliche Murmellaute von sich gab. Die Sozialarbeiterin stutzte und rief ihre Vorgesetzte. Die warf einen Blick auf das Kind und alarmierte die Polizei.

Das war die Entdeckung von Susan W., die unter dem Namen »Genie« in die Literatur eingehen sollte. Genie - so nannten die Wissenschaftler, die in den folgenden Jahren mit ihm zu tun hatten, das Mädchen -, Genie sah aus wie eine Achtjährige, war aber dreizehneinhalb Jahre alt und hatte etwas hinter sich, für das »schrecklich« ein zu billiges Wort ist, eine Deprivation sondergleichen.

Die Mutter war eine nicht nur wegen ihrer schlechten Augen völlig hilflose Frau, der Vater ein tyrannischer und von Wahnideen heimgesuchter Mann. Er hatte etwas gegen Kinder, vor allem ihr Geschrei konnte er nicht ertragen. Als Genie zwanzig Monate alt war, nähte er mit eigener Hand eine Art Harnisch, mit dem er sie in einem kleinen und fast leeren Schlafzimmer nackt auf einen Toilettenstuhl fesselte. Und an diesem Ort, in dieser Lage verbrachte sie die folgenden zwölf Jahre. Wenn man sie nicht einfach vergaß, wurde sie abends in eine Zwangsjacke gesteckt und in ein Kinderbett gelegt. Nie verließ sie dieses lachsrote Zimmer mit den verhängten Fenstern, von dem aus nur ein Stück Himmel zu sehen war und in das kaum je ein Laut drang.

Gefüttert wurde sie mit Milch und Kinderbrei. Sie sah nur die Mitglieder ihrer Familie. Sprechen durfte niemand mit ihr, und sie selber durfte keinerlei Laut von sich geben oder Geräusch machen. War der Vater wütend auf sie, schlug er sie mit einem Holzknüppel; oder er - und später auch Genies älterer Bruder - knurrte, fletschte die Zähne und bellte sie an wie ein Hund. Die Mutter war so verängstigt, daß sie ihrer Tochter nicht beistand.

Aber als sie 1970 mit ihrem inzwischen siebzigjährigen Mann Streit bekam, raffte sie sich auf und telefonierte mit ihrer Mutter. Die bewegte sie dazu, das Haus ihres Mannes zu verlassen und Genie mitzunehmen. So kam es, daß sich Genie schließlich auf der Sozialbehörde einfand. Die Eltern wurden wenig später wegen Kindesmißhandlung vor Gericht gestellt; die Mutter wurde freigesprochen, der Vater erschoß sich am Tag der Verhandlung, einen Zettel hinterlassend mit den Worten so manches Irren: »Ihr werdet nie verstehen.«

Zwölf Jahre lang gefesselt und eingeschlossen und ohne menschlichen Umgang: bei ihrer Befreiung konnte Genie kaum Arme und Beine strecken, ging zunächst nur steif und schwankend, selbst das Stehen fiel ihr schwer. Für ihr Alter war sie mit 1 Meter 37 viel zu klein, und sie wog nur knapp 25 Kilo. Sie beherrschte ihren Stuhlgang nicht, urinierte bei jeder Erregung, speichelte unausgesetzt (daher ihr fauler Geruch), war unempfindlich gegen Hitze und Kälte. Speisen kaute sie nicht; sie stopfte sie in die Backentaschen und wartete, bis der Speichel sie zerkleinert hatte - wenn sie die Geduld verlor, spuckte sie sie aus.

In den folgenden Monaten und Jahren, die sie in Krankenhäusern, Sonderschulen und bei einer Pflegefamilie verbrachte, lernte sie nur mit größter Mühe, was wir menschliches Sozialverhalten nennen. Sie ging beim Essen umher, nahm anderen die Bissen vom Teller, die ihr verlockend erschienen, spuckte, schneuzte ihre Nase auf alles, stellte sich dicht vor Fremde und starrte sie an, griff nach allem, was ihr gefiel, gab jahrelang selber niemals etwas ab und masturbierte in aller Öffentlichkeit ständig und überall, an Tischkanten, Autogriffen, Türklinken.

Ihre Reife entsprach bei der Befreiung der eines einjährigen Kindes. Trotzdem beschrieb die Psycholinguistin Susan Curtiss, die jahrelang mit ihr arbeitete, mehrere Artikel und 1977 auch ein Buch über sie schrieb, sie als hübsch, gewinnend, aufmerksam und neugierig. Und sie lernte, machte Fortschritte, wurde langsam immer menschenähnlicher.

Anfangs war ein leises Winseln ihre einzige Lautäußerung gewesen. Außerdem schien sie den Tonfall der Warnung und der Verneinung und ein paar Wörter und Wendungen (»Klapper«, »Mutter«, »Schluß damit!«) zu verstehen. Selber sprach sie gar nicht. Nach einigen Monaten Sprachunterricht aber begann sie die Dinge ihrer Umgebung zu benennen. Alle Kinder gehen mit etwa zwanzig Monaten durch das Stadium der Zweiwortsätze. Es dauert nur wenige Wochen, und im Anschluß entwickelt sich die Sprache explosionsartig. (»Implosionsartig« wäre das richtigere Wort - es ist, als saugten die Kinder außerordentlich schnell, aber in durchaus geordneter Folge die Sprache in sich hinein, die um sie her gesprochen wird.) Auch Genie machte die normalen Stadien durch: Einwortsätze, Zweiwortsätze, längere Sätze. Aber alles dauerte sehr viel länger bei ihr, und die normale Sprachexplosion fand niemals statt. Ihre Äußerungen blieben äußerst kurz, gelangten über Ketten von drei Wörtern kaum hinaus und waren nach normalen Maßstäben ungrammatikalisch (»zwei Hand«, »will Milch«, »klein zwei Tasse«), Vier Jahre brauchte sie, die richtigen Verneinungen eines Satzes zu lernen. Sogenannte Ergänzungsfragen (wer? was? wo? wann?) lernte sie offenbar nie. Ihre Stimme war anfangs viel zu hoch; so etwas wie Satzmelodie bildete sich erst spät und unvollkommen aus.

1978 bekam die Mutter das Sorgerecht zurück. Sie nahm Genie aus ihrer Pflegefamilie, und seitdem gibt es keinen Bericht, keine Nachricht mehr über sie. Irgendwo im Süden Kaliforniens soll sie abgeschirmt in einem Pflegeheim leben. Die Mutter - jemand muß sie überzeugt haben, daß noch Geld aus der Tragödie zu schlagen sei - verklagte das Kinderkrankenhaus und Susan Curtiss wegen »Ausbeutung um persönlicher und materieller Vorteile willen« auf eine halbe Million Dollar Schadenersatz. Die Gerichte haben noch nicht endgültig entschieden. - Dieter E. Zimmer, Experimente des Lebens. Zürich 1989 

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