eperzeption Apperzeptions-Verweigerung Befangenheit und Dummheit sind nicht dasselbe. Man kann innerhalb seiner derzeitigen Befangenheit voll apperzeptionswillig sein, man kann apperzipieren, man kann sogar im Apperzipieren befangen sein. Man kann nicht tendenziös dumm und dabei apperzeptionswillig1 sein, man kann nicht im Apperzipieren2 auf solche Weise dumm sein, sondern nur unzulänglich. Befangenheit konstituiert das Leben (bios), Dummheit — nie nennen wir so die simplicitas3 mehr! — sucht es zu vernichten, durch Ausschluß, und glaubt, das zu vermögen. Die Befangenheit kreist in ihrer Sphäre, also in einem hohlkugeligen, in sich zurücklaufenden, demnach auf seine Art unendlichen Raume, Keimhülle des Geistes, Schutz-Hülle einer geistigen Situation gegen den Strahlungsdruck des Kosmos, Schutzhülle von allermindester Dicke, und nicht eine Hornhaut oder wie jener demiurgische Bleimantel der Gnosis. Die Dummheit dagegen müßte viereckig symbolisiert werden, um ihren a-mikrokosmischen Charakter zum Ausdrucke zu bringen. Dies zur Bereinigung eines mißverständlichen Zusammenhanges, den ich zwischen der Dummheit und einer Stelle der ›Gr. u. kl. Gesch.‹, pag. 69, unten, herstellen wollte (»Zum Leben, daß es eigentlich Leben sei — das stand nun erwiesen da — gehört, daß es seiner Gemachtheit vergäße, und so von Zeit zu Zeit auch des Gotts.«). Die Dummheit ist dort freilich in keiner Weise gemeint, was auch ohne Güterslohs direkte mündliche Äußerung ad rem sich herausstellen hätte müssen (ich befragte ihn nämlich diesbezüglich — infolge eines Denkfehlers also).

Apperzipieren = aperte percipere.

Jedermann ist in Bezug auf irgendetwas nicht dumm (taub — im akustischen Sinne und im Sinne tauben Gesteins!). In Bezug auf garnichts dumm zu sein bedeutet mikrokosmische Verfassung, also einen normalen Menschen. Wer nur eine spezielle Apperzeptionswilligkeit hat, ist ein bösartiger Dummkopf, ein Herabgekommener, ein Cretin: zumindest aber deformiert, sei' s auch talentvoll.

Daraus (aus dieser Betrachtung der Dummheit) ergibt sich: der Mensch ist universal gemeint, wenn auch nicht nach allen Seiten fähig, so doch von allen Seiten ansprechbar. Alles Übrige ist Verkümmerung, voll gültig auf der Ebene des Erfahrbaren.

Verkümmerung kann auch Verkrümmung durch Leistung sein: da haben wir den Fachmann. Er ist notwendig ein Dummkopf.

Dies muß erreicht werden: die Schrankenlosigkeit der Apperzeption, und um den Preis des Dahingehens der Egozentrizität. Damit erscheint die Aussage des Erfahrbaren erst in ihrer vollen Verbindlichkeit. Den Aberglauben abzuwerfen, daß es außerhalb des Gehorsams noch irgendeine Wirklichkeit zu finden geben könne: das ist‘s, darauf kommt‘s allein an. Man gelangt so allerdings zu dem erschreckenden Bilde, das eigene Leben als eine breite Fläche voll Torheit zu sehen, von außen, als eine Menge Dummheit, die offenbar hat realisiert werden müssen, die irgendwo hinaus mußte und also an uns vorüber brauste, in ihrer Art, auf ihre Art.

Sich der Intelligenz zu ergeben, zu ihr entschlossen sein, ist also, wie ich sehen und einsehen mußte, ein Vorgang von Opferung (der Dummheit nämlich), welcher keineswegs auf das intellektuelle Stockwerk beschränkt bleibt, sondern einen viel gewaltigeren Widerhall, ja geradezu eine Wiederholung und erst die rechte fundamentale Verstärkung findet, sobald der Prozeß auf der Ebene des Erotischen angelangt ist. Die Forma (das Formprinzip) amoris kann hier die Dummheit so wenig bleiben Wie dort, und die herabgelassenen Luken der Deperzeption4 werden hier genauso aufgestoßen werden müssen wie anderswo (und wie die geschlossenen Fensterladen der Trägheit). Auch hier wird die Analogia entis hereinbrechen und man erlebt dabei, daß, was ein Zimmer in die letzten Ecken füllen konnte, bei geöffneter Tür nicht mehr zu bestehen vermag. Die Paradoxie, daß einer die Frau Welt nur zu umarmen fähig ist, wenn er sie ausschließt, muß notwendigerweise zur Verarmung führen.

Erst wenn der Vorgang der Ablehnung von Deperzeption auf der Ebene des Erotischen angelangt ist und diese überzieht, können sich die Gefängnismauern der Dummheit öffnen.

Die Dummheit ist letzten Endes — ein Laster, dem sich einer immer wieder hingibt. Man muß in der Naturgeschichte der Dummheit ein schon sehr Vorgeschrittener sein, um das wirklich wissen zu können. Und man kann zu dieser Erkenntnis nur durch die eigene Dummheit gelangen, genauer: durch sie hindurch, also nicht mittels ihrer, sondern angesichts ihrer. Es wird demnach — um die Dummheit als Laster durchschauen zu können — vorausgesetzt, daß man, erstens, selbst wirklich dumm sei, zweitens, daß man es wisse. Beide Voraussetzungen treffen bei mir zu.

Der Dummheit zu entsagen, und das in den zahllosen Einzelfällen und Weichenstellungen des eigenen Innern bis in‘s Feinste und Kleinste zu exemplifizieren — das ist ein Akt, der für eine ganze Lebens-Haltung als Fundament zureicht. Freilich ist damit nur guter Wille bewiesen, noch nichts getan, noch nicht gelebt. - Heimito von Doderer, nach (bes)

1 In Logik bzw. Erkenntnistheorie »urteilende Auffassung«.
2 Offen (geradeheraus) erfassen, begreifen, deutlich einsehen.
3 Einfalt. 
4 «De-» bezeichnet hier Abtrennung, Abschließung. 

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