alles
Das Weib eines armen Juden (so erzählt ein Talmudist) fand, als sie
eines Tages auf den Boden ihres kleinen Hauses stieg, daselbst einen dürren,
ganz ausgemergelten, nackten Menschen, der sie bat, ihm Obdach zu gönnen, ihn
zu nähren mit Speis und Trank. Erschrocken lief das Weib herab und sprach wehklagend
zu ihrem Mann: „Ein nackter, ausgehungerter Mensch ist in unser Haus gekommen
und verlangt von uns Obdach und Nahrung. Wie sollen wir aber den Fremden nähren,
da wir selbst kaum unser mühseliges Leben von Tag zu Tag durchfristen."
„Ich will", erwiderte der Mann, „hinaufsteigen zu dem fremden Menschen
und sehen wie ich ihn hinausschaffe aus unserm Hause." „Warum", sprach
er dann zu dem fremden Menschen, „warum bist du geflüchtet in mein Haus, der
ich arm bin und nicht vermag dich zu ernähren? Hebe dich fort und gehe in das
Haus des Reichtums, wo die Schlachttiere langst gemästet und die Gäste geladen
sind zum Gastmahl." „Wie kannst du", erwiderte der Mensch, „mich forttreiben
wollen aus dem Obdach, das ich gefunden? Du siehst, daß ich nackt bin und bloß,
wie kann ich fortziehen in das Haus des Reichtums ? Doch laß mir ein Kleid machen,
das mir paßt und ich will dich verlassen." - „Besser ist es", dachte
der Jude, „daß ich mein Letztes daran wende, den Menschen bald fortzuschaffen,
als daß er bliebe und verzehre, was ich mit Not zu erwerben vermag." Er
schlachtete sein letztes Kalb, wovon er mit seinem Weibe viele Tage hindurch
sich zu nähren gedachte, Verkaufte das Fleisch und schaffte von dem gelösten
Gelde ein gutes Kleid an für den fremden Menschen. Als er aber hinaufging mit
dem Kleide, war der Mensch, der erst klein und dürr gewesen, groß geworden und
stark, so daß das Kleid ihm überall zu kurz war und zu enge. Darüber entsetzte
sich der arme Jude gar sehr, aber der fremde Mensch sprach: „Laß ab von der
Torheit mich fortschaffen zu wollen aus deinem Hause, denn wisse ich bin der
Dales." Da rang der arme Jude die Hände und jammerte und schrie: „Gott
meiner Väter, so bin ich gezüchtigt mit der Rute des Zorns und elend immerdar,
denn bist du der Dales, so wirst du nicht weichen, sondern all unser Hab und
Gut wegzehrend, immer größer und stärker werden." Der Dales ist aber die
Armut, die, wo sie sich einmal eingenistet, niemals wieder weicht und immer
mehr zunimmt. - E. T. A. Hoffmann, Die Brautwahl (aus: Die
Serapionsbrüder)