Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. Auf lange Krücken schief herabgebückt An einem Fenster klebt ein fetter
Mann. |
- Alfred Lichtenstein, in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument
des Expressionismus. Neu herausgegeben von Kurt Pinthus. Reinbek bei Hamburg
1969 (RK 55-56a, zuerst 1920)
Dämmerung (2)
Winterdämmerung An Max von Esterle Schwarze Himmel von Metall. Im Gewölk erfriert ein Strahl; In Verfaultem süß und schal Kirchen, Brücken und Spital |
- Georg Trakl, nach (
mus
)
Dämmerung (3) Die Stadt errötete
tiefer, und ihre Wangen erblühten purpurn; dann plötzlich begann die ganze Welt
zu welken und sich mit Schwarz
zu überziehen, und rasch stieg eine gespenstische Dämmerung auf, die alle Dinge
ansteckte. Tückisch und giftig griff die Seuche der Dämmerung um sich, sie sprang
von einem Ding aufs andere über, und was immer sie berührte, begann sogleich
zu faulen, schwarz zu werden, zu Staub zu zerfallen. Die Menschen flohen vor
der Dämmerung in lautloser Panik, und plötzlich packte sie dieser Aussatz und
überschüttete ihre Stirn mit dunklem Ausschlag, sie verloren ihre Gesichter,
von denen große, unförmige Flecken
abfielen, und so gingen sie ohne Gesichtszüge, ohne Augen weiter, verloren unterwegs
eine Maske um die andere, so daß die Dämmerung nur so wimmelte von den Larven,
die sie auf der Flucht abgeworfen und verstreut hatten. Sodann begann alles
mit schwarzer, morscher, sich in großen Placken schuppender Borke zuzuwachsen,
mit dem kranken Schorf der Dunkelheit. Doch während
unten alles die Zügel schießen ließ und in stillem Aufruhr, in der Panik raschen
Zerfalls ganz und gar zunichte geworden war, hielt sich oben das schweigende,
alarmierte Abendlicht, das immer höher stieg und vom Gezwitscher einer Million
leiser Glöckchen erzitterte, das sich wie eine Million
unsichtbarer Lerchen in die Lüfte schwang und in eine einzige, riesige, silberne
Unendlichkeit flog. Dann war es plötzlich Nacht — eine
riesige Nacht, die sich durch die Windstöße noch weiter ausdehnte. - Bruno Schulz, Die Nacht der großen Saison, in (
bs2
)
Dämmerung (4) Bei Anbruch der
Dämmerung drangen wir allmählich in einen geheimnisvollen Landstrich vor, eine
Art terra incognita, wo alle gewohnten Anhaltspunkte mit einem Schlage
zerronnen waren: von Zeit zu Zeit brachen die staubbedeckten Hecken am Wegrand
ab und machten übcrgangslos zwei eingeebneten Geröllmoränen aus Ziegeln und
Bruchstein Platz, in deren Halbdunkel das Motorengeräusch eine wimmelnde Rattenmeute
hochschreckte, keine Spur von Menschen, nichts bewegte sich, nur matte Friedhofsruhe;
in der leicht gespenstischen Dämmerung, die kein Licht mehr durchdrang,
in der plötzlich hereingebrochenen, bis auf die Knochen gehenden Kälte, schien
der nach und nach entvölkerte Lastwagen an die Grenze bewohnter Landstriche
vorzudringen, in eine jener abgeschiedenen Regionen aus Vampirfilmen, wo die
Irrlichter der Sümpfe die einzigeii Leuchtkörper sind
und kleine tote Seelen lautlos mit Fledermausflügeln herumflattern. -
(
grac
)
Dämmerung (5) Ein Mann, dessen
Hirn wegen einer in früher Jugend erworbenen syphilitischen Infektion langsam
verklumpt, bittet einen Freund, mit ihm in die Stadt zu reisen. Aus Mitleid
fährt der Freund mit, und in Gedanken an die Lage seines unglücklichen Gefährten
verfällt er, während er die eine Straße hinauf- und die andere hinuntergefahren
wird, über das, was er sieht, ins Grübeln. Da es Abend ist, wird er Zeuge einer
Dämmerung von gewaltiger Schönheit, die rückwärts auf die Welt niederfahrt,
in einer dem Lauf der Sonne entgegengesetzten Richtung, und da er nicht weiß,
was er sonst denken soll, entdeckt er darin die gleiche Macht, die seinen Freund
in die Zerstörung geführt hat. Nunmehr ist er geneigt, seinen Hohn verächtlich
über den empfänglichen Stumpfsinn der Stadt zu schütten und sich aus dem Unglück
seines Freundes wirklich nichts zu machen. -
(kore)
Dämmerung (6)
DÄMMERUNG Im Hof, verhext von milchigem Dämmerschein, Ihr Siechentum schließt geisterhaft sich ein. Formlose Spottgestalten huschen, kauern Die andern fliehn durch dunkelnde Arkaden; |
- Georg Trakl
Dämmerung (7)
Dämmerung (8) Mich ohne einen Lichtblick
aufzurichten wagte ich nicht. Ich ließ mich auf meinen Hintern plumpsen und
drehte den speichelnassen Rand der Materialtüte, die ich zuletzt mit den Zähnen
vor mir hergetragen hatte, in den Fingern. Als ich sie schließlich zwischen
meinen Oberschenkeln auf den Boden setzte, kam mir ihr Rascheln plötzlich anders
vor, es war, als höbe sich das Aneinanderschaben der papiernen Falten nicht
nur von der Stille, sondern durch seine Klangfarbe auch von der Schwärze der
Umgebung ab. Hauchzart errötet schien mir meine Tüte jetzt. Und wirklich fing,
kaum merklich schwach und dampfig fein, gleichmäßig, ohne eine Quelle zu verraten,
im unerkannten Raum ein Dämmern an. Ganz langsam kam das Licht heraufgequollen.
Als ich die Wände, rechts und links von mir nur einen guten Meter weit entfernt,
mehr ahnen denn erkennen konnte, glich ihr Farbton schmutzigen Ziegelsteinen,
als ich die Decke sah - ein Hüne hätte aufrecht stehen können -, war sie tomatenfar-ben,
so wie das Fleisch von halbzerkochten Dosenfrüchten, und wie ich endlich - das
Dimmen schien seine Langsamkeit fast lüstern auszukosten - Konturen unterschied,
war deren Röte wäßrig, ähnlich dem Speichel, der über eine aufgeschlagene Lippe
rinnt. - Georg Klein, Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte. Berlin
2001
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