Dada-ABC  Ordnung nach dem ABC wäre undadaistisch, also wurde diese dem Zufall überlassen, dem Hauptgott der Dadaisten... [Genauere Quellenverweise vgl. Bibliographie]

 

UFALL diente als „Erforschungs- und Erfahrungstechnik“, gesehen als „ursacheloses Angeordnetsein“, als „Ordnung außerhalb der Kausalität“ (C. G. Jung). Picassos Spruch „Ich suche nicht, ich finde“  gehört hierhin, ebenso der Ausdruck „Serendipity“, der ungefähr ein glückliches Finden dessen meint, was man nicht gesucht hat, das aber trotzdem 'paßt'.

Arp hatte lange in seinem Atelier am Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt zerriß er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach einiger Zeit zufällig wieder auf diese auf dem Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn ihre Anordnung. Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht hatte.  

Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

Wahrscheinlich ist damit der Enstehungsprozeß

... dieser Collage - „Arrangement entsprechend den Gesetzen des Zufalls“ - entstanden.

...Ich entwickelte die Klebearbeit weiter, indem ich die Anordnung willenlos, automatisch ausführte. Ich nannte dies «nach dem Gesetz des Zufalls» arbeiten. Das «Gesetz des Zufalls», welches alle Gesetze in sich begreift und uns unfaßlich ist wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt, kann nur unter völliger Hingabe an das Unbe­wußte erlebt werden. Ich behauptete, wer dieses Gesetz befolge, erschaffe reines Leben.

Arp, Unsern täglichen Traum...

Uns erschien der Zufall als eine magische Prozedur, mit der man sich über die Barriere der Kausalität, der bewußten Willensäußerung hinwegsetzen konnte, mit der das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis neue Gedan­ken- und Erlebnisreihen auftauchten. Der Zufall war für uns jenes 'Unbewuß­te', das Freud schon 1900 entdeckt hatte.

Ebd.

Der Zufall befreit uns aus dem Netze der Sinnlosigkeit

Hans Jean Arp

S. a. ÜBERRASCHUNG

RAUCHEN  Wenn man, die Lippen teilend, das Rauchen beginnt, als dreifaches Bewegungsmoment, dem ein viertes, akzidentielles Segment zufällt. Der Wille zur Macht des Tabaks als navy cut spottet in der Kalorie der Verbrennung der geistigen Profilrate. Das Rauchen, an sich Ruhe Im infantilen Verhalten des Lebens, steigert sich bei der Zigarette zum Dandyismus einer hemmungslosen Projektion des Sündenfalls. Während die Kunst die einzige gewachsene Sache des Menschen ist, stellt das Rauchen eines shag-calumets die trostvolle Gewißheit von der Einzigartigkeit des Geschehens und zugleich die Absolutheit, Indifferenz des Moments dar, die unvergängliche Wiederkehr alles Schwebenden in der inneren Versenktheit des Auflösens im Rauch. Das Rauchen, befrachtet vom abstraktkonkreten Sein, enthält die Aufhebung einer sozialen Verlorenheit in den Wohlgerüchen des Bryarholzes und einer vollendeten Form WD & HO Wills mild Capstan Tobacco Bristol-London, dessen Windungen unter dem Aufrollen des Glimmens im Ansaugen eines der Pranas oder Tattwas durch den leichten Duft der feinen Maserung und seine Hornmundstückdichte umlagert. Das Tabu einer Totem-Medizin in der Erlebens-Sektante des Westeuropäers, beseitigt alle Einwände einer primitiven Ausdrucksform wie der Wirtschaftspolitik. Geboren aus der Notwendigkeit, alles eitle einer unklaren Bildung zu überwinden, ist die Form hingebend, elegant und kurz. Die Freude des Silbers am Beschlagenwerden rund um den Vierkant des Calumethalses aufblätternd zur gehaltvollen Hohlheit eines doppeltgegliederlen Kopfes, dessen Luftachse sich zwischen den Zähnen des Rauchenden manifestiert als fünffache Dimension der Freiheit des Atmens und von Raum und Zeit. Die Kunst der Besitzgier ist der Anteil einer unbegreiflichen Schöpfung, deren plastische Prismatik im Huflattich der Buche eine Beziehungsform der Rose mitteilt. Der lebendige Gedanke der Rose in gelb ist das Eigenverkehrsproblem einer wechselnden Undulalion im Aroma des Duftes der festen Spitzogkeit ihrer Dornen. Der Mensch, bedürfend eines Katalysators seiner Gehörsdiskrepanzen verleiht dem Fett die Beweglichkeit des Geruchs in der Seife, als Analogie wertet er die spektrale Trikolore der zerspringenden Kugel, abgestoßen von einem Strohhalm, der des Darüberdenkens seiner Entstehung als qantilalive Qualität seiner Kategorie entfremdet bleibt. — Die Pneumatiks des transzendal-immanenten Seelenautos sind angeblasen vom Elan einer komprimierten Widerstandsfähigkeit, verwandt dem Benzol. Die einzigartige Verbundenheil des subjektiven Ods mit dem objektiven  Oszilieren des Parfüms macht den Gebrauch des Eukalyplos-lnhalators zu einer lunarischen Angelegenheil der chaotischen Mundhöhle.

Raoul Hausmann, Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933 Bd.2 München 1982 ["Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes..."]

DADA-MUSTERUNG

FORM  Ich lasse mich von der Arbeit führen und vertraue ihr. Ich überlege nicht. Während ich arbeite, entstehen freundliche, seltsame, böse, un­erklärliche, stumme, schlafende Formen. Sie bilden sich wie ohne mein Zutun. Ich glaube nur die Hände zu bewegen. Dem Hellen und dem Dunkeln, welches der «Zufall» uns schickt, sollten wir mit ergriffener Verwunderung und Dankbarkeit be­gegnen. Der «Zufall», der zum Beispiel unsere Hände beim Zerreißen eines Papiers leitet, die Figuren, die dabei entstehen, erschließen uns Geheimnisse, tiefere Vorgänge des Lebens. Das zufällige Abbrechen und Beiseitestellen einer Arbeit zeigt sich später als zur rechten Zeit erfolgt. Es ist eine wesentliche Handlung während der Entstehung eines Werkes. «Die blinde Wahl» einer Farbe schenkte oft dem Bilde ein lebendes Herz.

Arp, Unsern täglichen Traum...

Das literarische Pendant, nach Tristan Tzara:

Nehmt eine Zeitung.
Nehmt Scheren.
Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt.
Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht.
Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.
Schreibt gewissenhaft ab
in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.
Das Gedicht wird Euch ähneln.

Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität

Nach: 113 DADA Gedichte. Hg. Karl Riha. Berlin 1982  

FORM (2)  Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann

Francis Picabia

VERKÜNDIGUNG  Ich verkünde die Opposition aller kosmischen Eigenschaften gegen die Gonorrhoe dieser faulenden Sonne, die aus den Fabriken des philosophischen Gedankens kommt, ...

Tristan Tzara

Wir werden die geistige Führerschaft an uns nehmen. Wir werden zu Felde ziehen gegen die Gehirnwesen, Geistlinge, Systemlinge. Gegen die Aktionierer und lyrischen Tenöre. Gegen die „Programmatiker“ und Sektenbildner. Wir ergreifen die Partei der Bilderstürmer und jeglicher Radikalisten. Wir propagieren den Stoffwechsel, den Saltomortale, den Vampyrismus und alle Art Mimik. Wir sind nicht naiv genug, an den Fortschritt zu glauben....

Hugo Ball, Richard Huelsenbeck (Zürich 1916)

Huelsenbeck hatte schon 1915 in Franz Jungs Zeitschrift Neue Jugend den "neuen Menschen" "verkündet", ganz steil-expressionistisch-undadaistisch:

Der neue Mensch muß die Flügel seiner Seele weit ausspannen, seine inneren Ohren müssen gerichtet sein auf die kommenden Dinge und seine Knie müssen sich einen Altar erfinden, vor dem sie sich beugen können. Er trägt das Pandämonium naturae ignotae in sich selbst und niemand kann etwas dafür oder dagegen tun. Verrenkt zum Göttlichen, der Erlösung entgegentaumelnd wie Fakire, Styliten und Lumpenmärtyrer aller Jahrhunderte, die geheiligt worden sind, sieht er sich eines Tages von der Glut seines Herzens erschlagen, verzehrt, niedergerissen – er der Jauchzende, Irrende, paralytisch Verzückte....

Gelegentlich ist der "Dadasoph" Hausmann auch mit den Zarathustra-Emblemen aufgetreten, sicher nicht nur paraodistisch (er hatte überhaupt ein Faible für Sektierer wie etwa den Welteislehrer Hörbiger, Ernst Fuhrmann, Adrien Turel, Reichenbachs Od-Lehre, Louis Haeusser usw.):

Der Dadasoph ritt auf einer Eule, dem Tier der Weisheit, und hatte die Symbole Zarathustras, die Schlange und den Adler, in seiner Hand. „Die Welt als Erkenntnisproblem", meinte er, „ist Tabu-Dada. Vom All-Einen kommen wir zu den Schweinen, hopsassa."

Ich verkünde die dadaistische Welt! Ich verlache Wissenschaft und Kultur, diese elenden Sicherungen einer zum Tode verurteilten Gesellschaft. Was kann es mich angehen zu wissen, wie Martin Luther aussah? Ich stelle ihn mir vor als dickbäuchigen kleinen Mann. Er sah aus wie der Volksbeauftragte Ebert. Was brauchen wir Buddhas Reden zu lesen – es ist besser, eine falsche Vorstellung von philosophischen Exkursen zu haben....

Raoul Hausmann, „Pamphlet gegen die weimarische Lebensauffassung“ (1919)

s. a. Dada-Zarathustra

DADA-GEOMETRIE   Die Rede des Oberdada:  Ich habe seit jeher Politik gemacht, ich und das Weltall. Denn wir gehören zusammen. Ich bin nicht erst Präsident des Erd- und Weltballs seit der Revolutionszeit. Ich bin Präsident seit jeher und habe die Geschichte der Erde vorausgeschrieben von der Entbindung der Sonne an bis zur Konstitution und Erweckung des Klub Dada. Ja, als die Sonne noch ein kleines Wurm war in den Eierstöcken ihrer uranischen Großmutter, die ich befruchtet habe.

Den Beweis werde ich Ihnen liefern. Er ist kongruent dem Parallelogramm der Ereignisse, dividiert durch die Wurzel des Weltalls in ideeller Konkurrenz mit der Popularität der astronomischen Leitlinie aus dem Gegensatz des Eigen und Fremd, dessen Dissonanz aufgelöst wird in der Aggregationskomponente des Dada. Es wird Ihnen also klar sein, daß mich der Ausbruch des Weltkriegs nicht überrascht hat, sagte doch schon August Bebel zu Karl Liebknecht: Du bist im Irrtum, wenn du glaubst, der Umstand, daß mein Todestag und dein Geburtstag auf den gleichen Tag kommen, sei die Rosa der Weltrevolution von Luxemburg in Sowjet-Rußland.

Die Geometrie der Wurzel ist ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Kongruenz ich beschlossen habe. Kongruenz ist das Zusammenfallen der Schenkelpaare auf derselben horizontalen Grundlinie wie der spitze oder stumpfe Winkel, in dem sich die Schenkel in die Höhe stellen und dann aufeinandertreffen. Die Parallelität der Milchstraße von Sowjet-Rußland geht geradewegs über den Bauch von Leipzig und bekommt dort Zwillinge. Diese ziehen die Konsequenz der Ereignisse unter den Blitzkugeln Beta aurigae und Alpha Kapella in der astronomischen Leitlinie der Zellularpathologie der Pleiadente(a)ngente Zeta und Epsilon Persei. Am 4. September 1912 steigt das Kreuz aus dem Himmel, zwei Jahre später verliert Moltke die berühmte Schlacht an der Marne. Aber die Gynäkologie dieses Muttermundes reicht noch weiter. Wilhelm II. = „M.W." = „machen wir", befiehlt am 26. September 1916 Falkenhayn die Ersteigung des Aussichtsturms auf dem Roten Turmpaß, frontal-vertikal halbrechts von Hermannstadt, Richtung Kassiopeia. Die Offensive erfolgt parallel der Leitlinie im tellurischen Zickzack. — Sie kennen das W. = Wilhelm II. = M.W. = „machen wir" — durch ganz Rumänien. Hindenburg pfeift Ludendorff, schlägt sich auf den Bauch und holt die Sowjetsterne Lenin und Trotzki aus dem Kabarett Voltaire in Zürich, wo sie den Dadaismus begründet haben. Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und der Rumäne Tristan Tzara begleiten die Sowjetsterne im plombierten Wagen aus der Schweiz bis nach Rußland.

Nicki tritt ab vom Thron. Am gleichen Tag telegraphiere ich Wilhelm II. in Flandern: „Komme sofort! Postkarte genügt nicht! Der Präsident des Erd- und Weltballs." Wilhelm telegraphiert aus Cent: „Der Mann ist entlassen!" Und am tausendsten Tag des Weltkriegs schickt mich der Kommandant der Etappendivision als dauernd untauglich zu jedem Hilfsdienst unter Auflösung meines Vertrags nach Hause.

Johannes Baader, nach: J. B.: Oberdada. Schriften, Manifeste, Flugblätter, Billets, Werke und Taten. Hg. Karl Riha u.a. Lahn-Gießen 1977

COLLAGE   Welches ist die höchste Errungenschaft der Collage?

 Das Irrationale. Das gebieterische Vordringen des Irrationalen auf allen Domänen der Kunst, der Poesie, der Wissenschaft, in der Mode, im Privatleben des einzelnen, im öffentlichen Leben der Völker. Wer Collage sagt, meint das Irrationale. Die Collage hat sich insgeheim Eingang in die Gegenstände unseres täglichen Gebrauchs verschafft. Begeistert haben wir ihr Erscheinen in den surrealistischen Filmen be­grüßt (ich denke an L'Age d'or von Bunuel und Dali - an die Kuh im Bett, wie der Bischof und die Giraffe zum Fenster hinausgeworfen werden, wie der Karren durch den Gouverneurssalon fährt, an den Innenminister, wie er nach dem Selbstmord an der Decke klebt, usw.). Die Klarheit der irrationalen Handlung, die aus der wahl­losen Folge von Collage auf Collage resultierte (La femme 100 têtes, Traum eines Mädchens, das in den Karmel eintreten wollte, Une semaine de bonté), hat uns über­rascht.

Nicht vergessen werden darf eine weitere Errungenschaft der Collage: die surreali­stische Malerei, wenigstens in dem einen ihrer vielfältigen Aspekte, den ich zwischen 1921 und 1924 allein herausgearbeitet habe und der später, während ich auf mich selbst angewiesen in den noch unerforschten Wäldern der »Frottage« herumirrte, von anderen weiter erforscht worden ist (zum Beispiel von Magritte, dessen Bilder ganz und gar handgemalte Collagen sind, und von Dali).

Als ein der Collage verwandter Vorgang kann auch die - früher »Zusammenarbeit« genannte - systematische Verschmelzung der Gedanken von zwei oder mehr Autoren in einem Werk bezeichnet werden.

Max Ernst

KUNST, konkrete  Wir wollen nicht die Natur nachahmen. Wir wollen nicht abbilden, wir wollen bilden. Wir wol­len bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar und nicht mittelbar bilden.

Da keine Spur Abstraktion in dieser Kunst vorliegt, nennen wir sie konkrete Kunst.

Die Arbeiten der konkreten Kunst sollten nicht die Unterschrift ihres Autors tragen. Diese Malereien, diese Bildhauerarbeiten - diese Dinge -sollten in der großen Werkstatt der Natur anonym sein wie die Wolken, die Berge, die Meere, die Tiere, die Menschen. Ja - auch die Menschen soll­ten sich in die Natur einfügen. Die Künstler sollten in einer Gemeinschaft arbeiten wie die Künstler des Mittelalters. 1915 schon versuchten dies O. van Rees, C. van Rees, Freundlich, Sophie Taeuber und ich.

Ich schrieb im Jahre 1915: Diese Werke sind Bauten aus Linien, Flächen, Formen, Farben und suchen über das Menschliche hinaus das Unendliche, das Ewige zu erreichen. Sie sollen unsere Ichsucht verleugnen ...

 Hans Arp, Unsern täglichen Traum ...


RPADE  Wörter, Schlagworte, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter und Sätze in Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich. Ich nannte diese Gedichte <Arpaden>.  

Hans Arp: Worträume und schwarze Sterne. Wiesbaden 1953

Beispiel:  

WELTWUNDER sendet sofort karte hier ist ein teil vom schwein alle 12 teile zusammengesetzt flach aufgeklebt sollen die deutliche seitliche form eines ausschneidebogens ergeben staunend billig alles kauft
nr 2 der räuber effektvoller sicherheitsapparat nützlich und lustig aus hartholz mit knallvorrichtung
nr 2 die zwerge werden von ihren pflöcken gebunden sie öffnen die taubenschläge und donnerschläge die töchter aus elysium und radium binden die rheinstrudel zu sträußen
die bäuerinnen tragen ausgebrannte ausgestopfte sonnen in ihrem haar den bäuerinnen nur in ihren kröpfen nur in ihren nickhäuten nur in ihrer lieben kleinen stadt jerusalem wachspuppen auszusetzen erlaubt ist
nr 6 obiger ausschneidebogen gratis
nr 2 einige frauen aus meinem lager um aufzuräumen
nr 4 staunend alles staunt aus dem herbarium steigt das von uns zusammengestellte crocrodarium farbig color
nr 4 system gebogen alles zusammen 5 franken
nr 2 die säge sägt jedes holz für schreiner praktisch es können rädchen und 4 ecken damit ausgesägt werden dauerhaft praktisch und vorteilhaft

ARP ist da keiner versäume es erstens ist es staunend billig und zweitens kostet es viel obwohl der okulierte bleivogel des regattentages mit tausend knoten schnelligkeit in die esse fuhr dies beunruhige die werften nicht

Aus Zeitungsinseraten (1917)

SEKTE

s. VERKÜNDIGUNG

LAUTGEDICHT  Niemand konnte vortragen wie er. Es mag sehr wohl sein, wie Hausmann durch Briefe belegt, daß die >Ur-Sonate< von Schwitters auf Hausmanns früherem Lautgedicht aufgebaut ist, dem >fmsbwe<. Aber was Schwitters daraus machte und wie er es sprach, war ganz verschieden von Hausmann.

Bei Hausmann fühlte man stets eine drohend finstere Aggression gegen die Welt. Seine außerordentlich interessanten Lautgedichte waren, wenn er sie sprach, so etwas wie wutverzerrte Beschwörungsformeln, in Angstschweiß gebadete Schreie aus der Unterwelt gequälter Dämonen.

Bei Schwitters war alles frei; ein Geist, in dem die Natur waltete, regierte. Kein Ressentiment, keine unterdrückten Regungen. Alles kam direkt von der Tiefe nach oben, ohne Zögern und fix und fertig, wie Athena aus dem Kopf von Zeus, in voller Rüstung, noch nie dagewesen.  

Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

s. a. POTSDAM

SELBSTENTGIFTUNG  An der Grenze des eklen Raumes hielt die Sphinx Wache, und Ödipus, der Vatermörder, wurde gesandt, um das Rätsel zu lösen und mit seiner Mutter zu schlafen. Aber auch der Bruder der Sphinx, Typhon, stieg aus dem Sumpf, um zu lernen, sich nicht zu fürchten, selbst wenn man ihm einen Eimer kalten Wassers voll kleiner Fische über den Rücken gießt.

Damit ist DADA und der Typhonismus geboren und die Ablehnung, Furcht zu haben. Diese Selbstentgiftung wird uns nie mehr verlassen.  

Raoul Hausmann

STUHLGANG  Der Dadaismus hat die schönen Künste überfallen. Er hat die Kunst für einen magischen Stuhlgang erklärt, die Venus von Milo klistiert und «Laokoon & Söhnen» nach tausendjährigem Ringkampf mit der Klapperschlange ermöglicht, endlich auszutreten. Der Dadaismus hat das Be­jahen und Verneinen bis zum Nonsens geführt. Um Überheblichkeit und Anmaßung zu vernichten, war er destruktiv.  - Arp, Unsern täglichen Traum ...

OBERLEITUNG  Die Oberleitung geschieht in der Art, daß jeder Dadaist nur seinen eigenen Weisungen folgt und nur für sich selbst verantwortlich ist. Er hat das Recht, die Leitung des Oberdada in jeder Form abzuleugnen und kann dem Oberdada stets und beliebig Opposition machen auf jede ihm geeignet erscheinende Weise. Sache des Oberdada bleibt es, die selbständige Arbeit der Dadaisten im Gesamtsinn zu verwenden und ungeeignete Opposition durch geeignete Mittel im geeigneten Augenblick zu unterdrücken.  

Johannes Baader, Oberdada

OBERLEITUNG (2)  Alle Mitglieder der Dada-Bewegung sind Präsidenten.  

Pariser Dadaist, anon.

VORSICHT  Ich verstand Hugo Ball niemals sehr gut. Er war ziemlich groß und sehr dünn. Als ich ihm zum ersten Mal gegenüberstand, sah er für mich aus wie ein gefährlicher Verbrecher. Seine dunklen, meist schwarzen Anzüge und der schwarze breitrandige Hut, der seine vernarbten Züge verdeckte, täuschten einen Klosterbruder vor [eine verdächtige Note], Ich nahm sein sanftes Sprechen für eine Technik, spezielles Vertrauen zu erwecken [noch eine verdächtige Note]. Da ich selber voller Eitelkeit war, konnte ich mir einen Men-schen, der so herumlief, nur als einen Simulanten vorstellen, der das .Allermensch-lichste' hinter einer überlegenen Vorsicht verbarg. Gegen diese Vorsicht war Vorsicht geboten.  

Hans Richter, Dada-Profile

DADA-ASTRONOMIE  Was will die Sage von dem Zeichen des Menschensohnes im Himmel, die in der Bibel, Matth. 24 Vers 30, und an anderen Orten erwähnt ist? Weiß man, daß das Kreuz aufstieg in Deutschland, riesengroß aus acht Sternen, an jenem

4. SEPTEMBER 1912

an dem der gewesene Kaiser in Zürich gefeiert ward als der Bringer des Weltfriedens.

Und am 10. Dezember 1912 erschien in der Mitte die Jahreszahl: 1914. Dann ver­schwand das Kreuz und an seine Stelle trat am 26. September 1913 die Pyramide der fünf Fixsterne, durch deren offene Spitze der Same der Neugeburt in die geöff­nete Welt strömt. Dies Zeichen der Neugeburt schritt mit viel anderen Wunderzei­chen durch die ganzen Jahre des Kriegs hin, bis zu dessen Ausgang am 26. Septem­ber 1918, an dem Tag, da Bulgarien mit seiner Kapitulation die deutsche Ostfront auseinanderriss, während am gleichen Tag Marschall Foch zum Generalangriff auf die Westfront ansetzte: am 26. September 1918. —

— Jahrtausendelang stand das Zeichen der strömenden Pyramide aus den fünf Sternen ALKIONE, ZETA und EPSILON PERSEI, KAPELLA und BETA AURI-GAE am runden Erdhimmel, bevor es zum ersten Mal gesehen wurde am 26. Sep­tember 1913 — vor dem Beginn des Weltkrieges, dessen Abschluß in Ost und West fiel auf den 26. September 1918. -

Auch in der Mitte des Kriegs spielte der 26. September eine ausschlaggebende Rol­le; aber die Führer sahen sie nicht, denn der geheime Zentralrat der Welt hielt ihnen die Augen zu bis zum

26. SEPTEMBER 1918 .  

Johannes Baader, nach: J. B.: Oberdada. Schriften, Manifeste, Flugblätter, Billets, Werke und Taten. Hg. Karl Riha u.a. Lahn-Gießen 1977

HASS (1)  Über Jahrzehnte hatte er [Hausmann] auf Hannahs Namen mit jener Art diabolischem Haß reagiert, der ihn zu stimulieren schien.

Am 27. 12. 1966 antwortete er mir: »Wenn Sie (so wie ich), den Glauben an die Menschheit verloren haben, brauchen Sie ihn wegen Hannah Hoch nicht wieder herzu­stellen!« Der Brief endete mit dem Rat: »Also ich hoffe, mein armer Freund, Sie bleiben bei guter Gesundheit und um dies zu können, denken Sie nur nicht an die Menschheit. Ich bleibe mit herzlichen Wünschen zum Neuen Jahr, Ihr — Raoul Hausmann.«

Das ist und war keine Pose; Haß gegen Menschen, Autorität und Banalität war nicht nur sein Privileg. Das verband ihn mit dem Dada-Geist der Berliner Dada-Bewegung, besonders der Grosz, Jung, Herzfelde .. ., jeder mit seiner eigenen anarchistischen oder kommunistischen Kolorierung. Die Liebe zum Haß war der Kitt, der die Gruppe in ihrei-kurzen Lebenszeit zusammenhielt. Mehr, es war ihr Stimulans, sich mit Haß und Verachtung aufzuladen und dann diese auf ein zum Amüsement gekommenes Publikum loszulassen. Das war Lebensgenuß. Aus der Menschen-Verachtung zogen Grosz wie Hausmann ihr Leben lang positive Kräfte wie andere aus der Liebe und dem Mitgefühl.

So ist Hausmanns Anti-Hannah-Höch-Reaktion mehr als eine Schutz-Maßnahme zu verstehen: keine überflüssigen Gefühle in sein dynamisches Kraftzentrum eindringen zu lassen, als egoistische Selbstbewahrung und nicht etwa nur als Griesgrämigkeit eines alten Mannes. 1915 war er nicht ein Jota anders, nur wilder.  

Aus Richter, Begegnungen ...

HASS (2)  Ich wohne vor wie nach in dem reizenden, spießigen, honett bürgerlichen Berliner Vorort Südende, und Tag für Tag erhält mein Deutschenhaß durch das unmöglich Häßliche, Unästhetische (jawohl!), schlecht, überaus schlecht Gekleidete seiner deutschesten Bürger, neue sehr lichterloh brennende Nahrung. Hier stehe es für Dich: «Ich fühle keine Verwandtschaft mit diesem Menschenmischmasch.» Rasse ist ein Begriff, der einem scharfen Beobachter nicht geeignet erscheint, ihn den Deutschen zu geben. Was sehe ich, seitdem keine Ausländer mehr in Deutschland leben: nur ungepflegte, dicke, deformierte, häßlichste Männer und Frauen (vor allem), degeneriert (obwohl ein dicker roter fettig schlapper Mann hier als «stattlicher Herr» gilt), mit schlechten Säften (vom Bier), mit zu dicken und zu kurzen Hüften, kurz, es hält überaus schwer beim Erinnern an so viel, ach allzuviel Häßlichem, sich hier auf dem Papier in den Grenzen der Schicklichkeit zu bewegen. Du kannst nun begreifen, was diese Rasse sich in geistiger Beziehung für Culten hingibt. Es ist buchstäblich reale Tatsache, daß ein Deutscher nie etwas in geistiger Beziehung neugeschaffen hat. Der Deutsche hat alles vom Auslande abgesehen. (Welch Glück, daß ich kein Deutscher bin!) Es ist eine sich immer erneuende Qual, als Sehender unter all diesen stinkenden Blinden zu leben - und dabei haben diese Menschen (Christus, den Ich gestürzt habe, spricht, welch Hohn, von meinen lieben Brüdern, Trotteltumreligion) die positive Macht, sie zwingen Mich zu ihren Diensten, indem sie Mich einfach zu Militärdiensten einziehen oder sonstwie erschießen lassen. Welche merkwürdigen Begriffe von Menschlichkeit, frage ich Mich: wozu haben alle die einzelnen Philosophen gelebt, die nach Schulsprache: «uns Menschen (mich?) hinaufführen sollen.» Es ist wahr, ich bin ein Gegner des Krieges, das heißt, ich bin ein Gegner gegen jedes System, das (welches) Mich zwingt — vom Standpunkt einer ästhetisierenden Anschauung allerdings freue ich mich über jeden Deutschen, der auf dem Felde der Ehre (wie schön) den Heldentod stirbt. Deutsch sein heißt immer: geschmacklos sein, dumm, häßlich, dick, unelastisch — heißt: mit 40 Jahren keine Leiter besteigen können, schlecht angezogen sein. Deutsch sein heißt: reaktionär schlimmster Sorte, heißt: unter hundert, wäscht sich mal einer den ganzen Körper. (N. B. Die deutsche Frau ist überhaupt diskussionslos.)  Pause. Augenblicklich befinde ich mich abermals in jener überaus reizvollen Stellung eines Jünglings, der kurz vor der zweiten Einstellung zum Vaterlandsdienste steht.

George Grosz an Robert Bell (1916/17)

HASS (3)  Nachmittags bei George Grosz (dem Zeichner). Seine ganze Kunst ist in ihrem ausschließlichen Kult der Häßlichkeit deut­schen Spießertums sozusagen nur das Gegenbild irgendeines geheimen Schönheitsideals, das Grosz in sich verbirgt, sozusagen schamhaft verhüllt. Er zeichnet und zeigt und verfolgt mit fanatischem Haß das Gegenteil dessen, was er in seinem Inneren trägt und wie ein Heiligtum vor allen Blicken schützt. Seine ganze Kunst ist ein Vernich-tungskampf gegen dieses Gegenteil seines stets verhüllten Ideals, seiner geheimen >Liebesdame<; statt sie wie ein Minnesänger zu besingen, kämpft er alle Tage wie ein besessener Ritter gegen ihre Widersacher mit schonungsloser Wut. Ein ganz merkwürdiger und einziger Fall: der Idealist mit umgekehrtem Vorzeichen. Nur in der Farbe leuchtet etwas von seinem geheimen Ideal durch. Eine mimosenhaft empfindliche Natur, die aus Empfindsamkeit unerhört brutal wird und die Gestaltungsgabe zu dieser Brutalität besitzt.  

Harry Graf Kessler in seinen Tagebüchern

BLUFF  Sie werden einwenden: Dada, das ist der Bluff. Nun, die Menschen sind Sensationstiere, die das Gruseln nicht erst zu lernen brauchen; der dadaistische Mensch überspringt im Bluff seine eigene Sensationsgier und Schwere. Der Bluff ist kein ethisches Prinzip, sondern praktische Selbstentgiftung; da Dada und Bluff miteinander gleichzusetzen sind, so ist der Bluff Wahrheit - denn Dada ist die exakte Wahrheit. Demnach ist Dada eher ein Lebenszustand, mehr eine Form der inneren Beweglichkeit als eine Kunstrichtung. Dada, das ist die Einsicht in die verlogene Art der dichterischen Tragik und der Feierlichkeit, die Einsicht in die Unverschämtheit der Wissenschaft. Dem Dadaisten dreht sich heute noch die Sonne um die Erde - sollte sie es aber nicht tun, so wird ihn auch dies nicht erschüttern.   

Raoul Hausmann, Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933 Bd. 1. München 1982

SKANDAL (in Paris)  Im Monat März zeigte die Kundgebung im "Œuvre" Dada auf dem Gipfel seiner Vitalität.  Man wies 1800 Personen ab;  Im Zuschauerraum stritten sich je drei um je einen Platz. Es war zum Ersticken. Begeisterte Zuschauer hatten Musikinstrumente mitgebracht, um uns zu unterbrechen. Dada-Feinde warfen aus den Logen Exemplare eines soeben herausgekommenen antidadaistischen Journals "Nein", worin wir als Narren behandelt waren. Der Skandal nahm gänzlich unvorstellbare Proportionen an.  Soupault proklamierte: "Ihr seid alle Idioten, ihr seid würdig, Präsidenten der Dada-Bewegung zu sein." Breton las bei vollkommenster Dunkelheit mit Donnerstimme ein für das Publikum wenig schmeichelhaftes Manifest.  Paul Eluard gab sogenannte "Exempel" zum besten.  Ich will eines mitteilen:  Der Vorhang geht auf, zwei Personen, von denen die eine einen Brief in der Hand hat, kommen von den entgegengesetzten Seiten aufeinander zu und treffen sich in der Mitte.  Folgender Dialog entspinnt sich:

"Das Postamt ist gegenüber."
"Was geht mich das an ?"
"Verzeihung, ich sah den Brief in Ihrer Hand und glaubte  ..."
"Es kommt hier nicht aufs Glauben an, sondern aufs Wissen."

Danach setzen sie ihren Weg fort, und der Vorhang fällt. Es gab sechs, untereinander sehr verschiedene "Exempel", wobei die Mischung von Menschlichkeit, Albernheit und Unerwartetem einen kuriosen Kontrast mit der Brutalität der anderen Nummern bildete. Gelegentlich dieser Soiree habe ich eine teuflische Maschine erfunden mit drei aufeinander folgenden und unsichtbaren Echos, um dem Publikum einige Phrasen über die Ziele des Dada einzuhämmern. Diejenigen, die am meisten Sensation machten, waren:

 "Dada ist gegen die Teuerung"-,  "Dada ... Aktiengesellschaft für die Ausbeutung de Vokabulars" und  "Dada ist eine jungfräuliche Mikrobe". Man spielte noch drei kleine Theaterstücke von Soupault, Breton und Ribemont-Dessaignes und "Das erste himmlische Abenteuer des Herrn Antipyrin",  das ich 1916 geschrieben hatte»  Dieses Stück war ein Boxmatch in Worten. Die Personen rezitierten ihre Rollen unbeweglich in Säcken und Koffern, und man kann sich leicht die Wirkung vorstellen, die das in einer grünlichen Beleuchtung auf das Publikum ausübte. Man vermochte nicht ein einziges Wort von dem ganzen Stücke zu verstehen.  

Tristan Tzara nach: Raoul Hausmann, in: Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs: Raoul Hausmann. DADA und Neodada. Innsbruck 1994

ENSCH  Was ist der Mensch? Was sehr Natürliches sagen die Einen. Nee, was ganz Künstliches, die Andern. Ich meine, der Mensch ist so 'ne bessere Art Marionette, die vom — Milieu gespielt wird, von der Atmosphäre, die der Mensch sich selbst schafft. Ach Gott, Quatsch, das Leben ist ein bald lustiger, bald trauriger Unsinn — und das Kabarett ist so etwa ein größerer Taschenspiegel. Alles spiegelt sich drin — ganz gut könnte man den Begriff Mensch als Kabarettnummer beinahe mechanisch darstellen. Das Kabarett zum Menschen, das wäre so'ne Art Eisenkäfig in zwei Etagen, mit einem Hometrainer, einem Motorrad in der ersten und einer Leitspindeldrehbank und Stanzmaschine in der zweiten Etage. Dazu käme noch 'n Föhnapparat und ein Waschkorb mit ganz, ganz winzigen Zettelchen, auf denen gedruckt steht: Seele. Damit kann man den ganzen Innerlichkeitshokuspokus, der sich Menschsein heißt, glänzend darstellen. Was ist denn weiter groß am Menschen dran; das Milieu kurbelt so'n bißchen den Seelenmotor an, und haste nich' jeseh'n — geht die Chose los: Schiebung, Mord, Ehebruch, Geburt, Hochzeit, Tod Na, und denn stoppt die Geschichte wieder.

Raoul Hausmann 1920 (in: Schall und Rauch)

DICHTER  Tzara, Serner und ich haben im Café de la Terrasse in Zürich einen Gedichtzyklus geschrieben: «Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und vom Spazierstock.» Diese Art Dichtung wurde später von den Surrealisten «Automatische Dichtung» getauft. Die automatische Dichtung entspringt unmittelbar den Gedärmen oder anderen Organen des Dichters, welche dienliche Reserven aufgespeichert haben. Weder der Postillon von Lonjumeau noch der Hexameter, weder Gram­matik noch Ästhetik, weder Buddha noch das sechste Gebot sollten ihn hindern. Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur: sie la­chen, reimen, stinken wie dieNatur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik; denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich sei.  

Hans Arp, Unsern täglichen Traum ...

HYPERBEL

die hyperbel vom krokodilcoiffeur und dem spazierstock

das elmsfeuer rast um die bärte der wiedertäufer
sie  holen aus ihren warzen die zechenlampen
und stecken  ihre steiße in die pfützen
er sang ein nadelknödel auf treibels
und pfiff so hold um die ecke das lotterliche
daß  ein  gußgitter glitschte
4 eugens auf tour skandinavien  millovitsch blaue kiste
ist   bombenerfolg
zwischen  dem   haarrahm  des  kanalstrotters
erstiefelte   der  saumseligste  zeisig den  breipfahl
eines   buttersackes   im   zinngefleder
schreckensfahrt   an   steiler  wand
der gut vater  senket
ins haupt den tomahwak
die mutter ruft vollendet
zum letzten mal ihr quak
die  kinder ziehen  reigend
hinein  ins  abendrot
der vater  steigt  verneigend
in ein  kanonenboot
auf  den  marmeladegürtel turnen
hinein  ins abendbrot
glitzerblöde   affenbolde
wiener  hintere  zollamtsvokabel  voll grauslichkeit
der  zirkusfeindliche   kiel
hänge das profil
im   internationalen
kanäle
abendmahlmarschäl(l)e
quartettmephistophele
auftribadenöle
skandierskandöle

handschriftlich: Arp Serner Tzara
societé  anonyme  pour  l'exploitation  du  vocabulaire dadaiste
per adresse: herrn  menschenmacher andreas hofer mantua
banden oder das zifferblatt der  hasenuhr

Nach: Raoul Schrott, Walter Serner und Dada. Siegen 1989 (Vergessene Autoren der Moderne XLI)

DADA-EROTIK

AUGENBLICK   Allein der Gegenwart verpflichtet, abgelöst von allen Bin­dungen aus Geschichte und Übereinkunft, stellte er sich in direkter Konfron­tation der ihm umgebenden Wirklichkeit und formte diese nach seinem Bilde. In einem bedingungslosen Ernstnehmen der Selbstherrlchkeit des Ich ver­stand er jeden spontan antwortenden Impuls, jede Meldung von Innen als Ausdruck reiner Wirklichkeit.

Werner Haftmann: Nachwort zu Hans Richter: "Dada - Kunst und Antikunst"

DADA-MAX  Sein fleisch wächst ihm in den schuh. Er legt wenigstens zwölfmal pro tag den alten adam ab. Er mauert die buchstaben lebendig ein. Er läßt die gräßer durch kleine dampfmaschinen treiben. Er wirft sich als führer der revolution der seepferde gegen hagenbeck auf.

Aus seinen starkgefügten mauern bögen schirmen steigt der tickende räderhimmel auf. Er stört die pupen beim brüten.

Spannt man zwischen zwei annatomien ein seil so erhält man darunter den schwermütigen hölzernen pelz in dem ihn seine frau mutter auffordert von dem schmackhaften fleisch seines verstorbenen herrn vaters zu kosten, mir mundet dies nicht ich ziehe ein stück vogelleichnam vor ist seine antwort. bei diesem dejeuner sur l'herbe ahmte er noch nicht die ra bulisterei schellenbenähter bienenväter weiser mit langen augenbrauen und gallapetern nach.

Schon von kindesbeinen an steigen aus seinem mund riesengroße köpfe aus bunter luft. im leeren verbinden sie sich mit dünnen faden und netzen untereinander, aus ihnen sinkt das menschliche großherz humorvoll durch einen schlauch. Nach einem autodidaktischen leben mit dito galaschlangenkopf stößt er einige eier ab und ruft ceterum cenceo expressionismum esse delendum.  

Raoul Hausmann, aus: Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933 Bd. 2. München 1982

DADA-ZARATHUSTRA  Sollte nicht unser Oberbewußtsein, oder was wir so nennen, bis jetzt nur ein Blindstück und als solches das Mittel gewesen sein, durch welches die Leitung der Gotteskomödie „Menschheit" den ersten Teil dieser Komödie so weit geführt hat, wie er bis jetzt geführt werden sollte?

Ja auch „Not", „Tod" und „Elend" könnten für den größeren, sehenden Teil unse­res „Ich" ein völlig Anderes sein und immer gewesen sein, als der blinde Teil sich darunter vorstellte.

Schließlich und zuletzt wird einleuchten, daß der Mensch keinen Tod mehr kennt, dem das Wunder „Geburt" ein Zusammentreffen lebend vorhandener Welten zu spielendem Chorgesang ist, denn er findet im „Tod" nur das Ende des einen Chors und das Bereitgestelltwerden zum Reigen und Weltgesang eines neuen.

Es hat angefangen ein neuer Akt der Göttlichen Komödie und sein Leitspruch lau­tet: „Die Menschen wissen, daß sie im Himmel sind."

Wo anders sollen wir sein als im Himmel? Nennen Sie mir ein größeres Wunder als das Dasein der Welt und des Menschen! (Also sprach der Oberdada.)

Club Dada, Berlin-Steglitz, Zimmermannstraße 34.  

Johannes BAADER: Oberdada. Schriften, Manifeste, Flugblätter, Billets, Werke und Taten. Hg. Karl Riha u.a. Lahn-Gießen 1977

s. a. VERKÜNDIGUNG

REIBUNG  Es suchte mich eine Vision heim, die meinem faszinierten Blick die Fußbodendielen aufdrängte, auf denen tausend Kratzer ihre Spuren eingegraben hatten. Um meine meditativen und halluzinativen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Dielen eine Serie Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit einem schwarzen Blei rieb. Als ich intensiv auf die so gewonnenen Zeichnungen starrte, da war ich überrascht von der plötzlichen Verstärkung einer halluzinatorischen Folge von gegensätzlichen und übereinander geschichteten Bildern. Meine Neugierde erwachte, und staunend begann ich unbekümmert und voll Erwartung zu experimentieren. Ich benutzte dazu alle Arten von Materialien, die in mein Blickfeld kamen... Da taten sich vor meinen Augen auf: menschliche Köpfe, Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endet, Felsen, das Meer und der Regen, Erdbeben, die Sphinx in ihrem Stall, Pampas, Peitschenhiebe und Lavafäden, Felder der Ehre, Überschwemmungen und seismische Pflanzen,... der Schmaus des Todes, das Rad des Lichtes... Unter dem Namen Naturgeschichte habe ich die ersten Resultate, die ich durch die Prozedur der Frottage (Durchreibung) gewann, zusammengetragen. — Ich bestehe darauf, daß die so gewonnenen Zeichnungen nach und nach den Charakter des befragten Materials (z. B. des Holzes) verloren haben, und zwar durch eine Serie von Suggestionen und Transmutationen, die sich spontan aufdrängten, so wie es hypnagogischen Visionen eigen ist. Und so nahmen diese Zeichnungen den Aspekt von Bildern einer unerhofften Präzision an; wahrscheinlich haben sie die erste Ursache der visionären Heimsuchung offenbart, d.h. die Bilder, die ans Licht wollten, haben den Maler das Mittel der Frottage finden lassen.

 Max Ernst, nach: Walter Hess (Hg.), dokumente zum verständnis der modernen malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)

 DADA-DIAGNOSE    Ich glaube übrigens nicht, daß es sich bei der Geisteskrankheit von K. Schwitters um Paralyse handelt, wie viele annehmen. Vielmehr scheint es sich um eine (ziemlich vorgeschrittene) Dementia praecox zu handeln. Solche Kranke sind in der Produktion von sinnlosem Wortsalat besonders fruchtbar. Sie können in jedem Lehrbuch der Psychiatrie Beispiele finden, die den Schwitterschen Elaboraten ähnlich sind wie ein Ei dem anderen.

 Dr. G. Praetorius: Das enthüllte Geheimnis der Anna Blume, in: Der Marstall, 1 (1920), Nr. 2

DADA-BARONESS  Elsa von Freytag-Loringhoven mit rasiertem und lackiertem Kopf, einen Teeball um ihren Hals, als wäre es eine Lavalier-Halskette, gelbe und schwarze Strümpfe, ein Kohleneimerdeckel als Helm und einen Hund an einer roten Leine. Mit dem Haupt eines römischen Imperators, grünen stechenden Augen, einer rauen authentischen Stimme, die aus einer verwüsteten Region kam, so deklamierte sie Hamlet auf Deutsch.  

Djuna Barnes, nach dem Vorwort zu: Mein Mund ist lüstern - I got lusting palate. Dada-Verse von Elsa von Freytag-Loringhoven. Hg. und Übs. Irene Gammel. Berlin 2005

The poet William Carlos Williams rued a short affair with her and was haunted by the baroness’s plaintive cry, “Villiam Carlos Villiams, I vant you“. Duchamp simply lived in terror of her.  - N.N.

DRESDEN  Als wir die Bühne betraten, nahmen Huelsenbeck und ich auf dem Sofa Platz und rauchten Zigaretten, und Baader stellte uns vor, während ich so laut wie möglich schrie:  "Richard, sieh dir nur diese Scheissbande an!" Die Antwort kam umgehend und ein enormer Tumult brach aus. Huelsenbeck, der seine Rede begann, konnte sie nicht beenden.

Da stand ich auf und las mein Manifest:  "Umgebt euch mit euren Generälen und euren Soldaten, Ihr, die Ihr euch das Volk der Dichter und Denker nennt - eure Dichter sind grade gut genug um in den Abort getaucht zu werden." Was zur Folge hatte, die Revolte zum Paroxysmus zu treiben.

Wie auf ein gegebenes Signal, stürzten sich einige Dutzend junge Leute auf uns.  Ich verteidigte mich so gut ich konnte, aber sie waren zu zahlreich und sie warfen mich von der Bühne in den Saal, wo die Menge auf mir herumtrampelte, meine Brille zerbrach und meine Hosen zerriss.  Ich brüllte:  "Lasst mich los, ich bin Ausländer!* Diese magische Formel hielt sie an. Als ich zurück auf die Bühne stieg, fand ich Huelsenbeck und Baader, die auch ihr Teil abgekriegt hatten, und jetzt mit den jungen Leuten diskutierten, die sich als zur sozialistischen Jugend gehörend enthüllten. Wir versicherten ihnen, sie seien verrückt, wir auch, wir wären Sozialisten. Das genügte um sie zu beruhigen, hingegen im Saal wurde das Publikum verrückt und fing an, die Stühle und Bänke zu zerbrechen.

Aber die Polizei, die alarmiert worden war, beschränkte sich zu sagen:  "Ah, das sind nur die Dadaisten" »  und sie zogen ab.

Raoul Hausmann, nach Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs: Raoul Hausmann. DADA und Neodada. Innsbruck 1994

LACHEN  So zerstörten, brüskierten, verhöhnten wir — und lachten. Wir lachten alles aus. Wir lachten über uns selbst, wie über Kaiser, König und Vaterland, Bierbauch und Schnuller. Das Lachen nahmen wir ernst; erst das Lachen garantierte den Ernst, mit dem wir unsere Anti-Kunst betrieben auf dem Weg zur Entdeckung unserer selbst.

Aber das Gelächter war nur der Ausdruck des neuen Erlebens, nicht sein Inhalt und Zweck. Den Radau, die Destruktion, die Anarchie, das Anti — wa­rum sollten wir das zurückhalten? Was war denn mit dem Radau, der De­struktion, der Anarchie, dem Anti des Weltkrieges? War das etwa nichts? Wie konnte Dada denn anders vorgehen als destruktiv, aggressiv, frech, aus Prinzip und mit Gusto?! Um den Preis, uns selbst mit Vergnügen täglich der Lächerlichkeit darzubieten, durften wir wohl das Recht in Anspruch nehmen, den Spießer einen vollgefressenen Sack und das Publikum einen Stall voll Ochsen zu nennen! Mit der bloßen Veränderung der Bildermalerei oder des Versmaßes gaben wir uns nicht mehr zufrieden. Wir wollten mit dieser Art von Mensch oder Un-Mensch gar nichts zu tun haben, mit dieser Sorte von Mensch, die mit ihrer Vernunftlokomotive über Leichenfelder und uns selbst raste. Schließlich: Wir wollten eine neue Art von Mensch heraufführen, mit der zu leben wünschenswert wäre, frei von der Diktatur der Vernünftigkeit, der Banalität, der Generäle, Vaterländer, der Nationen, der Kunsthändler, der Mikroben, der Vergangenheit und der jeweiligen Aufenthaltserlaubnis.

Aus Richter, Kunst und Antikunst ...

LACHEN  (2) Dada ist ephemer, sein Tod ist eine freie Handlung seines Willens. Dada hat das Reich der Erfindung entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, es hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst Gottes gemacht — aber es ist nicht an sich gescheitert. Dada stirbt nicht an Dada. Sein Lachen hat Zukunft.

Richard Huelsenbeck

MANIFEST  Hausmanns Notizbuch IV, 1921-1922, beginnt mit einer Aufzählung von Manifesten, die, soweit identifizierbar, 1921 entstanden sind: »Manifest von allem Möglichen / Manifest vom Unmöglichen (Sieg Tabak Triumph & Bohnen) / Manifest vom Conventionellen / Manifest „Presentismus" / Manifest von Dadas Tod in Berlin / Manifest von den Kräften des Atoms /Manifest an alle Welt

Raoul Hausmann

Um ein Manifest zu verfassen, muß man A. B. C. wollen und gegen 1, 2, 3, wettern. Sich abmühn und den Bleistift spitzen, um zu erobern und kleine wie große ABCs zu erobern und verbreiten. Unterzeichnen, schreien, fluchen und die Prosa in der Gestalt absoluter, unwiderlegbarer Klarheit arrangieren, ihr Non-plus-ultra beweisen und behaupten, daß das Neue dem Leben gleiche wie die letzte Erscheinung einer Cocotte dem Wesen Gottes. Dessen Existenz wurde bereits durch die Ziehharmonika, die Landschaft und das sanfte Wort bewiesen. Sein eigenes ABC aufzwingen, ist eine ganz natürliche - also bedauerliche Angelegenheit.

Tristan Tzara

Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotz­dem sage ich einige Sachen und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen Prinzipien bin... Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, daß man entge­gengesetzte Aktionen zugleich machen kann.

Tristan Tzara

SPRACHE (futuristische)  Ich lasse all die dummen Definitionen und all die verworrenen Verbalismen der Professoren beiseite und erkläre euch, daß Lyrismus die äußerst seltene Fähigkeit ist, sich am Leben und an sich selbst zu berauschen. Die Fähigkeit, das trübe Wasser des Lebens, das um uns und in uns ist, in Wein zu verwandeln. Die Fähigkeit, die Welt mit den ganz besonderen Farben unseres wechselhaften Ichs zu färben.

Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über diese lyrische Fähigkeit verfügt, befindet sich in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erd­beben usw.) und kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt ihr, was euer lyrischer und erregter Freund instinktiv machen wird?...

Er wird zunächst beim Sprechen brutal die Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede auszufeilen und zu nuancieren, sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehör- und Geruchsempfindungen in eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der Zeichensetzung und die Regulier­bolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen Worten ohne irgendeine konven­tionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle Vibrationen seines Ichs wieder­zugeben.

Marinetti

MENSCH  Der Mensch ist nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Kaffeemühle

Mark Twain (nach Richter, Kunst ..., der meinte, einen solchen Satz könne nur ein Dadaist erfinden.)

MARKENZEICHEN   Zu Reklame und  Selbstinszenierung, beides eminent dadaistische Tätigkeiten, (man war sich bewußt, sich in einem Markt zu bewegen...) gehören auch „Markenzeichen“...

George Grosz hat das „Gesicht der herrschen Klasse“ (so einer seiner Buchtitel), zu dem das Monokel gehörte, oft und mit Haß gezeichnet (hier: Detail aus „Stützen der Gesellschaft“)....

oder so

Das Einglas, sonst eher Accessoire der „herrschenden Klasse“, wurde von den Dadaisten usurpiert:

Zur Ausstattung des Dandy gehörte ein Accessoire, an dem sich die Geister schieden: das Monokel. Kritiker monierten, das Tragen der »Kompottschale« sei ein Nationalübel und »absolut Talmi«, Verfechter verwiesen hingegen auf seine erzieherische Wirkung. Der Monokelträger, so die Etikette, müsse seine Gesichtsmuskeln, sprich seine Affekte beherrschen, eine natürliche Würde ausstrahlen und einen Dunstkreis des Respektes um sich verbreiten. »Es gibt Menschen, die ihrer Weltanschauung ihr Monokel verdanken. Die tragen es zu unrecht. Aber es gibt solche,  die ihrem Monokel die Weltanschauung verdanken. Für die ist seine Benutzung Pflicht.«

Das Monokel verlieh dem Dandy den distanzierten und distanzierenden Blick und schärfte die Beobachtung der Umwelt. Die durch das Einklemmen der »Scherbe« verursachte Grimasse konnte auch zum Ausdruck zynischer Menschenverachtung eingesetzt werden.  George Grosz in seiner Autobiographie:

»Mein Freund Raoul Hausmann grinst araberhaft, klemmt das Monokel (Moo-noo-k-le!) in die Falte zwischen seiner brutalen Fresse und dem schiefsitzenden Auge.«  

Aus: Peter-Klaus Schuster (Hg.), George Grosz - Berlin New York. Ausstellungskatalog Berlin 1994

Tristan Tzara

Walter Serner...

(eher ein Pincenez?...)

In einer Höch - Collage trägt auch ein „Russischer Tänzer“ („Mein Double“) Monokel:

Aber auch:

Am überraschendsten  Jochen Klepper — denn er hatte es für notwendig gehalten, sich ein Einglas anzuschaffen, eins mit schwarzem Hornrand und einem Band daran. Damit las er seine Zeitschriften und Manuskripte. Und so konnten denn unsere Gäste von draußen aus dem Lande, aus den Gemeinden, oftmals ein heftiges Erschrecken nicht verbergen, wenn sie ihm gegenübertraten! Er war aber wirklich nicht arrogant, der liebe Freund, das Monokel täuschte derartiges nur vor — er errötete leicht und sah den fremden, meist durchs schwarze Tuch des Anzugs schon sein Amt verratenden Mann aus sanften braunen Augen freundlich und schüchtern an. Schließlich haben wir, seine beiden Freunde, uns dann doch ein Herz gefaßt und ihm zugeredet, um des friedlichen Schlummers der Besucher willen, die nun einmal, wenn sie zum Direktor wollten, an Kleppers Platz vorüber mußten — auf den Schmuck oder die Hilfe des Einglases zu verzichten. Er tat es — vielleicht doch mehr uns zuliebe als den Besuchern, was denn auf sich beruhen mochte. Es ist gar nicht so einfach für einen angehenden homme de lettres, in einem kirchlichen Institut zu arbeiten.

Aus: Kurt Ihlenfeld, Freundschaft mit Jochen Klepper.  Witten und Berlin 1958  

Ein weiterer Südender Nachbar von George Grosz, der Ozeanflieger Freiherr von  Hünefeld, trug das Monokel - wie Hausmann - primär aus Gründen einer Sehschwäche...

Hans Arp:

 

Auch André Breton:

Die beiden Konkurrenten Breton und Tzara (Jacques Rigaut ohne Monokel)

Und nicht nur Männer...

auch Una Lady Troubridge..  

und ihre Mitstreiterinnen....

konnten das (auch ohne Dada).

Vgl. Djuna Barnes' „Ladies Almanack“ (von 1928)

... und nicht nur angelsächsische Oberklassen-Lesben, auch deutsche Eisenbahner-Frauen....

 

konnten das....  das Markenzeichen der Surrealisten war bekanntlich der Revolver ...

DADA-BALL (Zürich)  An den Wänden hingen große Papierpanneaux, geklebt von dem bekannten Pariser Maler Christian Schad und versehen mit amüsanten Inschriften wie: »La peinture est peut-être le meilleur moyen pour terminer les difficultés conjugales«, und an allen Ecken und Enden befanden sich kleine Glöckchen, die auf bisher noch nicht erklärte Weise ohne Unterlaß leise läuteten. Dazu machte eine Original-Jazz-Band-Dada-Kapelle, die sich zur Komplettierung ihrer Klangwirkungen alter Töpfe, Autohupen, Kasserollen, Hundepfeifen und Flaschen bediente, einen geradezu beispiellosen Spektakel, den wiederum das Publikum vermehrte, indem es von einer amerikanischen (bei Drehung hustenden) Autohupe, die an einem Pfeiler montiert war, Gebrauch machte. Oberhalb dieser Hupe befand sich nämlich folgende Anweisung: »Pour surpasser Baudelaire, Caillaux et Picasso, tournez une fois s. v. p." An einem anderen Pfeiler hing ein Schwamm und darunter folgende Erklärung (in französischer Sprache): »Hier sehen Sie den Schwamm, mit dem Clémenceau sich kämmte, bevor er nach Ägypten sich einschiffte.« Kurz vor Mitternacht wurden zu Hunderten kleine Dadapfeifen und Dadaflöten verkauft, die durchaus neue Quargeltöne von sich gaben, so daß im Nu Musik und Gespräche in einem ohrenbetäubenden Lärm untergingen. In diesem Augenblick jedoch erschien der Manager des Balls, der Dadaistenführer Dr. SERNER, im Frack und roter Weste auf dem Podium, auf dem er einen überlebensgroßen Papiermachémops postierte, ihm das Maul öffnete und einen Klaps auf den Kopf versetzte, worauf aus dem Hals des lieblichen Tiers eine alles übertönende Detonation erfolgte. Sofort erschienen drei als Polizisten verkleidete Dadaisten und verhafteten Dr. Serner, schleiften ihn in den Saal und verurteilten ihn zur Arrangierung der Dada-Polonaise, welcher Aufgabe er sich in einer Weise entledigte, die solche Bedenken erregte, daß die echte Saalpolizei einschreiten mußte und fast den Ball sistiert hätte. Herr Dr. Serner gruppierte nämlich etwa ein Dutzend maskierter Damen um sich, die ihm den Frack auszogen, die Hemdärmel emporschoben und ihm auf die nackten Ellbogen abwechselnd kleine Schläge versetzten; als sie sich aber anschickten, diese Tortur zu erweitern, ertönten Pfuirufe, und ein Teil des Publikums nahm eine drohende Haltung ein, die jedoch sofort in Protestkundgebungen umschlug, als ein Polizeileutnant Dr. Serner aus dem Saal führte. Der Konflikt wurde dann beigelegt, der Ball ging weiter und endete um fünf Uhr morgens mit einer gewaltigen Dada-Apotheose: zwanzig Dadaisten schossen aus Kinderrevolvern minutenlang auf Dr. Serner, der ununterbrochen stöhnte: »Ah, c'est bon! Encore! Encore!«    K. F. [PRAGER TAGBLATT Nr. 69, 21. 3. 1920]  

Nach: Walter Serner, Das Hirngeschwür. Hg. Thomas Milch. München 1988

PRACHE (1) Die Sprache als soziales Organ kann zerstört sein, ohne daß der Gestaltungsprozeß zu leiden braucht. Ja es scheint, daß die schöpferischen Kräfte sogar gewinnen.

1. Die Sprache ist nicht das einzige Ausdrucksmittel. Die tiefsten Erlebnisse vermag sie nicht mitzuteilen (zu beachten bei der Bewertung der Literatur).

2. Die Zerstörung des Sprachorgans kann ein Mittel der Selbstzucht werden. Wo die Verbindungen unterbrochen sind, wo jede Verständigung aufhört, dort wächst die Zurückversenkung ins eigene Selbst, die Entfremdung, die Einsamkeit.

3. Worte ausspeien: die öde, lahme, leere Sprache des Menschen der Gesellschaft. Feldgraue Bescheidenheit oder Verrücktheit simulieren. Innerlich aber in hoher Spannung bleiben. Eine unverständliche, uneinnehmbare Sphäre erreichen.

 Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit

 AGGRESSION

 s. ZERSTÖRUNG

 SOIREE  Es wurde wirklich nett. Einige gebärdeten sich veitstänzerisch. Ein junger Dichter, in Wutekstase, erbrach weißen Schaum. Man bot sich Ohrfeigen an. Der Höhepunkt war Marinettis „Beschießung", ein Gedicht wie aus einer Wortlotterie, das Huelsenbeck mit einem Trömmelchen und mit einer Kinderschnarre begleitete. Keile lagen in der Luft. Man sah schon Lovis Corinths Bilder von Stuhl­beinen zerfetzt. Doch kam es nicht ganz so weit. Als Raoul Hausmann Programmatisches über da­daistische Malerei in den Lärm hineinschrie, drehte ihm die Leitung der Sezession das Licht aus.

Berliner Börsencourier, 13. April 1919

ANARCHIE  Dieses bewußte Ausbrechen aus der Rationalität mag auch die plötzlich aufbrechende Mannigfaltigkeit der Kunstformen und Materialien erklären, die in Dada Verwendung fanden. Durch die Unvoreingenommenheit gegen­über allen Prozessen und Techniken gelangten wir oft genug in den kommen­den Jahren über die Grenzen der einzelnen Künste hinaus: Von der Malerei zur Skulptur, vom Bild zur Typographie, zur Collage, zur Fotografie und Fotomontage, von der abstrakten Form zum Rollenbild, vom Rollenbild zum Film, zum Relief, zum Objet trouvé, zum Ready-made. Mit der Verwischung der Grenzen zwischen den Künsten wandte sich der Maler der Dichtkunst zu und der Dichter der Malerei. Überall spiegelte sich die neue Un-Begrenztheit wider. Das Ventil war aufgesprungen. So unsicher und unbekannt die Gebiete auch waren, in die man hineinsegelte, sprang, fuhr fiel, so sicher war man der Wegrichtung. . . Und die Wege führten nach allen Seiten?!

Es  ist  verständlich,   daß   aus  solcher  Grenzen-Losigkeit,   einem  solchen 'Dschungel der Widersprüche', kein gepflasterter Weg in die geordneten Herbarien der Kunstgeschichte führte. Gemessen an allen vorhergehenden Ismen mußte Dada als hoffnungslose Anarchie erscheinen.

 Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

 ANTI-KUNST  Das Gleichgewicht zwischen Unbewußtem und Bewußtem, das Arp aner­kannte (und nie aufgab) und das auch für mich eine Grundforderung blieb, und die Ausschließlichkeit, die Tzara dem Unbewußten zuerkannte, zeigten den Trennungsstrich. Dada wuchs daran. In diesem Spannungsfeld gewann Dada seine Kraft: das Meditative und das Spontane, oder — wie wir es damals vorzugsweise ausdrückten — die Kunst und die Anti-Kunst, das Wollen und das Nicht-Wollen etc. Das drückte sich auf mannigfache Weise aus und doku­mentierte sich in unseren Diskussionen.

...die sogenannte 'Kontingenz', von altersher bekannt. Unser Erlebnis stellte aber trotzdem eine 'Entdeckung' dar. Unser Zeitalter der Technik und der Naturwissenschaft mit ihrer absoluten Herrschaft der Logik und Vernünftigkeit hatte vergessen, daß in solcher Kontingenz ein notwendiges Lebens- und Erlebnis-Prinzip verkörpert war, daß zur Vernünftigkeit mit allen ihren Konsequenzen auch die Nicht-Vernünftigkeit mit allen ihren Konsequenzen gehörte. Seit Descartes hatte sich der Aberglaube von der All-Erklärbarkeit der Welt durch den Verstand etabliert. Dieser Aberglaube mußte durch eine notwendige Umkehrung ausgeglichen werden. Die Er­kenntnis, daß Vernunft und Anti-Vernunft, Sinn und Un-Sinn, Plan und Zufall, Bewußtsein und Un-Bewußtsein zusammengehören und notwendige Teile eines Ganzen darstellen, darin eben hatte Dada seinen Schwerpunkt.

 Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

BEFREIUNG  Dada war der wirksame und also geschichtlich richtige Ausdruck des Moments einer maßlosen Freiheit, in der alle Werte der menschlichen Existenz, - »das ganze Register der menschlichen Lebens­äußerungen«, wie Baader sagt -, ins Spiel eingebracht wurden und jedes Ding und jeder Gedanke einmal versuchsweise umgedreht, auf den Kopf gestellt, persifliert und vertauscht wurde, um zu sehen, was dahinter, dar­unter, dagegen, dazwischen war, um zu erfahren, ob nicht dem bekannten und vertrauten 'Hier' ein unbekanntes und wunderbares 'Da' entspräche, dessen Entdeckung das wohl etablierte und in seinen Dimensionen überschau­bare 'Hier-Sein' zu einem mehrdimensionalen 'Da-Sein' erhöhte. Dada war also ein durch die Mikroben der Freiheit fiebrig exaltierter Geisteszustand, der sich eigentümlich mischte - aus ungehemmter Neugier, spielerischer Freude an der Umkehrung und reinem Widerspruch.

Werner Haftmann: Nachwort zu Hans Richter: "Dada - Kunst und Antikunst"

BEFREIUNG (2)  Die Begeisterung, die die Mehrzahl erfüllte, galt dem eigenen ICH, das frei von Schuld und Sühne aus sich selbst seine Gesetze, seine Form und seine Bestätigung fand. Wie bei Picabia, Duchamp, Man Ray wirkte diese Methode Wunder. . . der Kunst. Sie wirkte Wunder, weil die Umstände die freieste Rebellion begünstigten, ja herausforderten.

Die Idee, die Menschen in die Lage zu versetzen, mit dem äußersten Opti­mismus und Glauben an sich selbst von ihren inneren und äußeren Energien Gebrauch zu machen, eben sie sollte in den ausgelassen-wilden Demonstra­tionen Dadas ihren Ausdruck finden. >Zum Teufel mit der Kunst, wenn sie uns daran hindern sollte !<

Unter diesem anarchischen Aspekt lebte die Berliner Dada-Bewegung auf ihre Weise wirkliches Leben vor und selbst die abscheulichsten Geschmack­losigkeiten, die gewalttätigen Manifeste (die manchmal gar schon Nazitöne anklingen ließen), finden darin ihre Entschuldigung.

Die Forderung, Kunst in die Abfallkübel zu verbannen, wurde in der Praxis weniger zu einem Kampf gegen die Kunst an sich, als vielmehr zu einem Kampf gegen die deutschen gesellschaftlichen Zustände.

Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

NIHILISMUS  

Dada ist wie Eure Hoffnungen: nichts
wie Euer Paradies: nichts
wie Eure Idole: nichts
wie Eure politischen Führer: nichts
wie Eure Helden: nichts
wie Eure Künstler: nichts
wie Eure Religionen: nichts

Francis Picabia

Dada war ein extremer Protest gegen die physische Seite der Malerei. Es war eine metaphysische Haltung. Bewußt und intim war es mit «Literatur» verwickelt. Es war eine Art Nihilismus ... ein Weg, um von einer bestimmten Geistesverfassung loszukommen — um zu vermeiden, daß man von seiner unmittelbaren Umgebung oder von der Vergangenheit beeinflußt wurde: um von den «Clichés» loszukommen...

Marcel Duchamp 1958

Keine Maler mehr, keine Literaten, keine Musiker, keine Bildhauer, keine Religionen, keine Republikaner, keine Royalisten, keine Imperialisten, keine Anarchisten, keine Sozialisten, keine Bolschewisten, keine Politiker, keine Proletarier, keine Demokraten, keine Bourgeois, keine Aristokraten, keine Armee, keine Polizei, keine Vaterländer, endlich genug von all diesen Dummheiten, nichts mehr, nichts mehr, nichts, nichts, nichts, nichts.

Auf diese Weise hoffen wir, daß das Neue, welches das Gleiche sein wird wie das, was wir nicht mehr wollen, sich als weniger verfault, weniger egoistisch, weniger handelstüchtig, weniger stumpfsinnig, weniger ungeheuer grotesk erweisen wird.

Es leben die Konkubinen und Konkubisten. Alle Mitglieder der Dada-Bewegung sind Präsidenten.

Anon. [Paris 1920], nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

NIHILISMUS (2)   Ich traf Picabia nur wenige Male, aber immer war es für mich ein Todeserlebnis: höchst fremd, höchst anziehend, äußerst herausfordernd und erschreckend. Aber wir alle hatten wohl in einem gewissen Moment und für eine gewisse Zeitspanne das Bedürfnis, dem Anti-Lebensimpuls zu folgen, den Picabia so virulent ausdrückte. ...

Picabia nahm die Haltung eines schöpferischen Menschen ein, der sich immer wieder gehalten sieht, zeugen zu müssen, mit der Haltung des Skeptikers, der die völlige Sinnlosigkeit all dieses Zeugens einsieht und dessen cartesianische Intelligenz jede Hoffnung ausschließt ... außer der, sich in diesem Konflikt aufzulösen. ...

Darin unterschied sich der Nihilismus Picabias grundsätzlich von dem moralischen Pessimismus Serners, dem immerhin noch tief unten ein Funke idealistischen Feuers trotz seines heftigen Zynismus blieb. Er unterschied sich ebenso von dem elegant verspielten, doch fundamental materiellen Nihilismus Tzaras, der das Leben nahm, wie er es finden sollte, und der, wenn auch nicht anders, so doch an sich glaubte.

 Hans Richter, Dada Kunst und Anti-Kunst ...

ADA-GEDICHT

Bestes Pflaster auch roter Segen
Bodenbepurzelndes Geschirr:
gar so süß soffen Ninallas Lippen Pommery grenofirst.
Minkoff, ein ganz ein Russischer, déroutiert nebengeleisig.
Vorüberfläppernder Handteller: benutzter Busen bläht Blondes. Pauschal.
Schal.
Schluck Wein (Länge: 63 centimètres) in rotverbesserte Nüstern gespien.
Queen!!!
Weil ensembletapfer beflüstert Kuno feistes Posterieur.
Knäuel, dem sich schweißig Unterarm entzupft.
Vornüber gewettert: Sibie schrie naturgemäß immens auf,
Hemigloben nach oben.
Derzeit brennendes Pedal berutscht entzückend anderwärts gestreichelten
Bauch.            Auch
Unüberholt wischt seine lingua fettesten Schenkel einher, Isidor.
O wie lieb ich das Gelichter des Lebens! (Abends, naturellement!)
Kurschewaz glotzt auf die ach so entfernten Deltafalten Zuzzis.
Baynes Destiny (Massachusetts-allerholdest) quillt geigengeil
um die Ecke;
Blech taumelt daraus schwierig empor:
schwachbeflorter Unterleib (?Gaby!) wogt taktvoll heran.
»Die Treue ist kein hohler Zahn« . . . (Kreuzung von Kind und Kegel)
Madame V. flicht, sehr gewiegt, Roger ein Glas in die Finger;
quetscht das Ganze stuhlzusich.
Pferch.                                Überzwerch.
(Apropos: man substrahiere Geschlechtskrankheiten; 
coitus würde allgemein beliebtes Gesellschaftsspiel;
wäre im Laden zu haben. Basta.) 

Walter Serner, nach: Hans Richter, Dada - Kunst und Anti-Kunst. Köln 1964

OBERDADA  Da beschloss ich, mit Hülsenbeck zusammen den Dadaismus auf die schon stark ratlosen Leute loszulassen, um wenigstens etwas zur Auflösung zu bringen. Richard nahm alles zu phantastisch, er ging mit der Kasse durch - und so beredete ich schnell Baader zu Dada, ihn versuchend wie Satan den Christus, indem ich ihm sagte, Dada wäre das magische Stichwort für Christus und wir seine Streiter. Damals konnte man Baader mit dem Phantom Christus zu allem bringen, erst viel später hatte er die Eigenreklame-möglichkeiten, die der Dadaismus ihm bot, begriffen. In diesem unglückseligen Moment, oder vielmehr durch eine Nachlässigkeit meinerseits, glückte es Baader durch Annahme eines gedankenlosen Zurufs Jacobsohns von der Weltbühne, sich zum Oberdada zu stempeln.

Raoul Hausmann: Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang. Manifest von Dadas Tod in Berlin. 1921

DADAISTIN  Einmal bekam sie Perlhühner geschenkt. Einen Stall besaß sie nicht. Also ließ Hanna Höch das Federvieh im Wintergarten herumlaufen. Der war aber auch Atelier, dort stand ihr Schreibtisch, stapelten sich die Zeitschriften, in denen sie Material für ihre Collagen fand. Kein Ort für   Hühnerkacke. Also zog die Höch den Viechern Windeln an. So einfach war das.

Jörg Haffkemeyer, Vorwärts 03/2007 (Zeitblende)

KANARIENVOGEL  Weshalb aber Hülsenbeck und der Dadaismus noch vor der eigentlichen Wirksamkeit, vor der Ueberwindung des Gestern scheitern musste, dies hatte einen seltsamen Grund: die Existenz eines Querkopfs, eines Menschen, der nicht die Konsequenz seiner Veranlagung ziehen konnte. Es war der Oberdada Baader, ein echter Harzer Kanarien-Edelroller, ein Mann, der nicht der deutsche Rasputin werden konnte, weil er eine ganz ungeheuerliche Eigenreklamesucht und ein opportunistisches Gebahren sein eigen nennt - und also statt den Dadaismus zur mittelalterlichen Sekte zu machen, aus ihm gerade das amerikanische entfernte, weil er auf eine flohzirkusmässige Art amerikanisch sein wollte. Es war Richard Hülsenbecks Schuld, mit diesem Baader, diesem entsetzlichen Kanarienvogel, nicht vorsichtig und psychologisch genug umgegangen zu sein: Dieser Autophonete war gerissen in jeder Beziehung und wurde durch ein ganz kleines Manöver des Dadaismus Herr - er führte in unsere demokratische Respektlosigkeit den Unteroffizier ein und verteidigte ihn mit solcher Hartnäckigkeit, dass seine Ausrottung nicht mehr gelang.

Hausmann: Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang. Manifest von Dadas Tod in Berlin. 1921

UNSINN

Der Dadaist liebt den Unsinn und haßt die Dummheit.

Raoul Hausmann

Ich wäge den Sinn und den Unsinn, Ich ziehe den Unsinn vor, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit.

Kurt Schwitters

Einen Lieblingsfeind der Surrealisten (Spätdadaisten), Paul Valéry, den Dichter der Klarheit, faßt bei sowas ein Grausen an:

Das Sinnlose und das Alberne, das Phantastische und das Willkürliche, das Verschwommene und das Verworrene, das zu Schöne und das zu Traurige umgeben alles Denken und locken es in ihren Abgrund. Während es sich vorwärtsbewegt und weiterentwickelt, umstellen es von allen Seiten Mächte des Untergangs, die es zu sich rufen. Und jener Vogel, der die Zeit der Seele durchfliegt, muß sie in Einklang bringen, muß sie gegeneinander ausspielen, um nicht abzustürzen.

Paul Valéry, Windstriche

MASCHINE, dadaistische

Francis Picabia, „Parade amoureuse“

ANTIDADAIST  Wir wünschen die Welt bewegt und beweglich, Unruhe statt Ruhe, - fort mit allen Stühlen, weg mit den Gefühlen und edlen Gesten! Und wir sind Antidadaisten, weil für uns der Dadaist noch zu viel Gefühl und Ästhetik besitzt. Wir haben das Recht zu jeder Belustigung, sei es in Worten, in Formen, Farben, Geräuschen; dies alles aber ist ein herrlicher Blödsinn, den wir bewußt lieben und verfertigen, - eine ungeheure Ironie, wie das Leben selbst: die exakte Technik des endgültig eingesehenen Unsinns als Sinn der Welt!!! NIEDER MIT DEM DEUTSCHEN SPIESSER!

Hausmann, Der deutsche Spießer ärgert sich

KAISER, verborgener   Die Reihe seiner bedeutenden Erlebnisse begann am Sylvestertag des Jahres 1896 mit einem Alpenglühen von unerhörtester Pracht, das in ganz persönliche Beziehung zu ihm trat. 2 1/2 Jahre später feierte er zum ersten Mal für sich allein den Gottes­dienst heiliger Nacktheit in einem einsamen Hain an den Ufern des Zürichsees, un­ter bewußter Verleugnung der Scham. Noch später schrieb er, am 28. Mai 1905, an Maximilian Harden, den Herausgeber der ,Zukunft', der wiederholt seinen Be­such gewünscht hatte: ,,er, Baader, annektiere das bekannte Wort Hebbels vom ,Verborgenen Kaiser' seit dem 24. Juni 1899, und unbestimmt schon seit dem Früh­jahr des Jahres 1897, für sich."

Johannes Baader

ÜBERRASCHUNG   

Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch

Lautréamont

Was nicht leicht entstellt ist, entgeht der Wahrnehmung; woraus folgt, daß die Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen ein wesentlicher und charakteristischer Teil der Schönheit sind.

Baudelaire

Aber das Neue existiert durchaus, ohne ein Fortschritt zu sein. Es steckt voll und ganz in der Überraschung. Der neue Geist liegt ebenfalls in der Überraschung. Gerade das ist das Lebendigste, das Neueste an ihm. Die Überraschung ist die große neue Triebkraft. Durch die Überraschung, durch den bedeutungsvollen Platz, den er der Überraschung einräumt, hebt sich der neue Geist von allen künstlerischen und literarischen Bewegungen ab, die ihm vorausgingen.

Apollinaire

Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen (der Frack oder das beschädigte Kleid werden selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Herren und Damen, von denen man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.

Marinetti

Überraschung, das einzige Gesetz der modernen Kunst

Paul Valéry

Wir begannen in den Haag auf konstruktivistische Weise. Doesburg las ein sehr gutes dadaistisches Programm, in dem er sagte, die Dadaisten würden etwas Unerwartetes tun.  In dem Augenblick stand ich inmitten des Publikums auf und bellte laut. Einige Leute fielen in Ohnmacht und wurden hinausgebracht, und die Zeitungen berichteten, Dada meine Bellen. Wir bekamen sofort Verträge für Harlem und Amsterdam. Es war ausverkauft in Harlem, und man ging so umher, dass Alle mich sehen konnten, und Alle warteten darauf, dass ich bellen würde. Doesburg sagte wieder, dass ich etwas Unerwartetes tun werde. Diesmal schnaubte ich meine Nase. Die Zeitungen schrieben, ich hätte nicht gebellt, sondern meine Nase geschnaubt. In Amsterdam war es so voll, dass die Leute phantastische Preise zahlten, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Ich bellte nicht, noch schnaubte ich meine Nase, ich rezitierte die Revolution. Eine Dame konnte nicht aufhören zu lachen und musste hinausgebracht werden.

Kurt Schwitters

Louis Aragon

Man hat DADA seine Reklamesucht vorgeworfen, man warf ihm Schwindel und Lüge vor.

Die Massenpsychologie DADAs war aufgebaut auf der Erkenntnis, daß das 'Wunderbare' der Romantiker im beginnenden Zeitalter der Reklame wirkungslos ward; DADA setzte anstelle der Blauen Blume die Wirkung des Überraschenden und des Ungewöhnlichen.

Schon das Wort ,DADA' rief Erstaunen und Neugier hervor, die sich meist sofort in Ablehnung und Wut beim Publikum verwandelten, ohne aber seine Anziehungs­kraft zu verlieren.

Wenn sich trotzdem die Zuschauer oft enttäuscht fühlten, so war dies nicht die Schuld der DADAisten oder DADAs, sondern die engstirnige Borniertheit und Auffassungsun-fähigkeit, selbst der Intellektuellen.

Es ist unzweifelhaft, daß Tristan Tzara ein Genie der Überraschungseffekte war und daß ohne seine wuchernde Phantasie DADA niemals seinen Weltruf erlangt hätte. Er wurde in seinen Bemühungen reichlich von Walter Serner unterstützt.

Hausmann, Am Anfang ...

Man könnte die Collage als alchemistisches Produkt aus zwei oder mehr heterogenen Elementen bezeichnen, als Ergebnis ihrer unerwarteten Annäherung, die eine - aus Liebe zum Hellsehen - auf systematische Konfusion und die »Verwirrung aller Sinne« (Rimbaud) gerichtete Absicht herbeigeführt haben kann, aber auch der Zufall oder eine den Zufall begünstigende Absicht. Zufall hier im Sinne von Hume als »Äquivalent für die Unwissenheit, in der wir uns hinsichtlich der Ursachen von Ereignissen befinden«. Die Richtigkeit seiner Definition erweist sich an der Weiterentwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und an der Bedeutung, die sie in den modernen Wissenschaften und im praktischen Leben, d. h. in der Mikro- und Astro-physik, in Biologie, Agronomie, Demographie usw. als Fachrichtung gewinnt. Ferner ist der Zufall der Meister des Humors - ein sehr diffiziler Aspekt, den man beim Forschen nach den »Gesetzen des Zufalls« übersehen hat. So ist er in nicht gerade rosigen Zeiten, in unseren Zeiten, wo eine feine Tat darin besteht, sich in der Schlacht beide Arme abreißen zu lassen, der Meister des Nicht-gerade-rosigen-Humors, des Schwarzen Humors.

Man hat gesagt, die bestimmende Note in meinen Collagen der Dada-Zeit sei dieser Humor. Das ist er aber nicht allein, und in manchen (Somnambuler Aufzug, Der bethlehemitische Kindermord, Über den Wolken . . .) findet sich keine Spur davon. Bestätigen läßt sich dagegen, wie mir scheint, daß die Collage ein übersensibles und unnachsichtig genaues, einem Seismographen vergleichbares Instrument ist, welches das Maß menschlicher Glücksmöglichkeiten zu allen Zeiten genau anzuzeigen vermag. Das Maß Schwarzen Humors in jeder authentischen Collage steht in umgekehrtem Verhältnis zu den Möglichkeiten der Verwirklichung von (objektivem und subjektivem) Glück.

Das entkräftet so manche Meinung, wonach das angebliche Fehlen jeden Humors in der surrealistischen Malerei der wesentliche Unterschied zwischen ihr und den dadaistischen Werken sei: Leben wir heute in rosigeren Zeiten als 1917?

Max Ernst

DADA-PUBLIKUM  Hier lag die Keile zu unserer großen Freude nicht nur in der Luft, sondern es kam zu einer Auseinandersetzung mit Stuhlbeinen, Schlüsselbunden und Stiefelknechten. Der Saal, in dem tausend Menschen wie Besessene tobten, wankte und jammerte, die Hose meines Freundes Hausmann blieb tot auf dem dadaistischen Schlachtfeld und Baader (ein Pastor aus Schwaben, der ein Anhänger der neuen gewaltigen Religion ist) bekam etwas Hartes an den Kopf, sodaß er durch eine Vision erleuchtet wurde und genau beobachten konnte, wie die Jungfrau Maria sich langsam an dem Kronenleuchter herunterließ. Das war außerordentlich lustig. Von Kunst war keine Rede mehr. „Schlagt sie tot!" „An die Wand stellen - von der Entente gemietet, um hier Revolution zu machen" sind liebliche Komplimente eines wildgewordenen Bürgermobs. Das ganze Mittelalter mit Tortur, Henker und Hexenprozessen sieht man in diesen deformierten Gestalten wach werden, die Goethe, Gott, Gotik und weiß der Teufel was verteidigen wollen, während sich ihr Gesäß und ihre Schultern verbreitern und der Urwaldaffe in ihren Augen sitzt.

Huelsenbeck: Dada siegt! Bilanz und Erinnerung. Hamburg 1985 (zuerst 1920)

MORAL  Jedenfalls ist die Moral die unzweckmäßigste Einrichtung zur Beseitigung irgendwelchen Betriebs. Dadurch, daß man ein gutes Geschäft (Moral) gegen ein beiweitem besseres (ohne Moral) zu halten in der Lage ist (welch holde Transparenz!), fällt es leicht, sich zuzugeben, daß man im Grunde gar keine Einstellung hat, sich ungefähr wie - losgelassen vorkommt und unnötigerweise mit einer hintersten Zurechtlegung sich herumgeschleppt hat... Die Beseitigung der Moral wäre deshalb vielleicht durch Einführung des Kettenhandels im Heiratsvermittlungsverkehr herbeizuführen. Oder durch Erschwerung des Kompottgenusses. Oder einfach durch Bäder.

Walter Serner, Letzte Lockerung

MORAL (2)

 »C'est possible que je serais bonne, si je savais pourquoi.«

 Ebd.

WELT  Damenseidenstrümpfe sind unschätzbar. Eine Vizekönigin ist ein Fauteuil. Weltanschauungen sind Vokabelmischungen. Ein Hund ist eine Hängematte. L'art est mort. Vive Dada!

 Ebd.

DADA-DEFINITIONEN  

Dada ist eine altertümliche, vierbeinige Armbrust, die ein Hündchen an der Leine führt.
Dada hat Schwingen, die gewaltiger als hundert Urwälder sind.
Dada sieht manchmal einem Menschen aus Torf mit Augen aus wurmstichigen Äpfeln ähnlich. Trotzdem ist Dada jeden Tag schöner als der vorhergehende.
Dada redet mit einer Menschenzunge von seinen unzähligen vollen Flaschen.
Dada hat Hände und Füße, die stets Dinge unternehmen, die weder Hand noch Fuß haben, hat Köpfe, die stets den Kopf verlieren, und Häuschen, die stets aus dem Häuschen geraten.
Dada ist Anfang und Ende, fängt mit dem Ende an, läßt alsdann den Anfang folgen und schließt nicht mit dem dicken Mittelteil. Darum sieht Dada so gesund aus, ist gerecht und vorur­teilslos in der Anwendung von großen Sprüchen...

Hans Arp

Dada ist ein Geisteszustand. Deshalb verwandelt es sich je nach den Rassen und den Ereignissen. Dada ist auf alles anwendbar, und dennoch ist es nichts, es ist der Punkt, wo das Ja und das Nein und alle Gegenteile zusammentreffen — nicht feierlich in den Schlössern der menschlichen Philosophen, sondern ganz schlicht an den Straßenecken wie Hunde und Heuschrecken.

Tristan Tzara 1924, nach: Richard Huelsenbeck (Hg.), Dada - eine literarische Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1964

Wer Dada ist, stirbt nicht, wenn er davon ißt Wer stirbt, wenn er davon ißt, ist nicht Dada Wer von Dada ißt, stirbt nicht daran Wer nicht Dada ist, stirbt nicht daran Ich denke, deshalb bin ich dada Ich bin Dada, weil ich denke Nicht Dada sein oder Dada sein, ist nicht die Frage die Frage ist, Dada sein Man stirbt nicht, wenn man ohne zu denken die Frage Dada ißt.

Raoul Hausmann

MENSCH, dadaistischer  Der dadaistische Mensch kennt keine Vergangenheit und kein Ziel, er ist gestrafft von der lebendigen Gegenwart, durch seine Existenz. Dada kennt keinen Idealismus, also keine Verlogenheit. Der dadaistische Mensch ist strikte gegen das dumme und unklare Gerede von Menschlichkeit und Güte; der dadaistische Mensch nimmt die Welt, wie sie ist, ohne sie ändern zu wollen. Dada lebt heute, es kämpft nicht gegen Verangenheiten, gegen oder für Zukünfte; es gestaltet die Welt praktisch nach ihren Gegebenheiten, es benützt alle Formen und Gebräuche, um die moralisch-pharisäische Bürgerwelt mit ihren eigenen Mitteln zu zerschlagen. Sie werden einwenden: Dada, das ist der Bluff. Nun; die Menschen sind Sensationstiere, die das Gruseln nicht erst zu lernen brauchen; der dadaistische Mensch überspringt im Bluff seine eigene Sensationsgier und Schwere. Der Bluff ist kein ethisches Prinzip, sondern praktische Selbstent­giftung; da Dada und Bluff miteinander gleichzusetzen sind, so ist der Bluff Wahrheit - denn Dada ist die exakte Wahrheit. Dem­nach ist Dada eher ein Lebenszustand, mehr eine Form der inneren Beweglichkeit als eine Kunstrichtung.

Raoul Hausmann, Was will Dada in Europa, 1920

EKEL  Ich verkünde die Opposition aller kosmischen Eigenschaften gegen die Gonorrhoe dieser faulenden Sonne, die aus den Fabriken des philosophischen Gedankens kommt, den erbitterten Kampf mit allen Mitteln des

dadaistischen Ekels.

Jedes Erzeugnis des Ekels, das Negation der Familie zu werden vermag, ist Dada; Protest mit den Fäusten, seines ganzen Wesens in Zerstörungshandlung: Dada; Kenntnis aller Mittel, die bisher das schamhafte Geschlecht des bequemen Kompromisses und der Höflichkeit verwarf: Dada; Vernichtung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen der Schöpfung: Dada; jeder Hierarchie und sozialen Formel von unseren Dienern eingesetzt: Dada; jeder Gegenstand, alle Gegenstände, die Gefühle und Dunkelheiten; die Erscheinungen und der genaue Stoß paraleller Linien sind Kampfesmittel: Dada; Vernichtung des Gedächtnisses: Dada; Vernichtung der Archäologie: Dada; Vernichtung der Propheten: Dada; Vernichtung der Zukunft: Dada; Absoluter indiskutabler Glauben an jeden Gott, den spontane Unmittelbarkeit erzeugte: Dada; eleganter, vorurteilsloser Sprung von einer Harmonie in die andere Sphäre; Flugbahn eines  Wortes, das wie ein Diskurs, tönender Schrei, geschleudert ist; alle Individualitäten in ihrem Augenblickswahn achten: im ernsten, furchtsamen, schüchternen, glühenden, kraftvollen, entschiedenen, begeisterten Wahn; seine Kirche von allem unnützen, schweren Requisiten abschälen, wie eine Lichtfontane den ungefälligen oder verliebten Gedanken ausspeien, oder ihn liebkosen - mit der lebhaften Genugtuung, daß das einerlei ist - mit derselben Intensität in der Zelle seiner Seele, insektenrein für wohlgeborenes Blut und von Erzengelkörpern übergoldet. Freiheit: Dada, Dada, Dada, aufheulen der verkrampften Farben, Verschlingung der Gegensätze und aller Widersprüche, der Grotesken und der Inkonsequenzen: Das Leben.

Tristan Tzara, Manifest Dada 1918

SPARKASSE  dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt. Der Chinese hat sein tao und der Inder sein brama. dada ist mehr als tao und brama. dada verdoppelt Ihre Einnahmen. dada ist der geheime Schleichhandel und schützt gegen Geldentwertung und Unterernährung. dada ist die Kriegsanleihe des ewigen Lebens; dada ist der Trost im Sterben. dada muß jeder Bürger in seinem Testament haben. Was soll ich den dada enthüllen? dada wirkt im Kleingehirn und im Großgehirn der Affen so gut wie im Hintern der Staatsmänner. Wer sein Geld in die Sparkasse dada einlegt, hat keine Konfiskation zu befürchten, denn wer dada anrührt, ist tabu-dada. Jeder Hundertmarkschein vermehrt sich nach dem Gesetz der Zellteilung 1327fach in der Minute. dada ist die einzige Rettung vor der Sklaverei der Entente. Jede Anweisung der Sparkasse dada hat auf der ganzen Welt Geltung. Wenn Sie gestorben sind, ist dada ihre einzige Nahrung; schon die alten Ägypter haben ihre Toten mit dada gefüttert.  ZENTRALAMT DES DADAISMUS

Nach: Dada Berlin. Stuttgart 1977. Hg. Hanne Bergius, Karl Riha

DADA-ETYMOLOGIE  Man lernt aus den Zeitungen, daß die Cru-Neger den Schwanz einer heiligen Kuh Dada nennen. Der Würfel und die Mutter in einer gewissen Gegend Italiens sind: Dada. Ein Pferd aus Holz, die Amme, doppelte Bestätigung im Russischen und im Rumänischen: Dada. Gelehrte Journalisten sehen darin eine Kunst für die Babys. Andere heiligen Jesus-appelantlespetitsenfants des Tags, die Rückkehr zu einem Primitivismus, trocken, lärmend und monoton.

Tzara, Dada-Manifest 1918:

Dada ist ein beinahe klassisches Wort in der melodisch schnalzenden Sprache der Kruneger. Das Wort „dada" weckt in jedem Krunegerhirn sofort höchst ehrwürdig pendelnd bewegte Vorstellungen, die sich für europäische Gehirne und Nasen mit einem milden, warmen Stallgeruch verbinden würden, denn es bedeutet, Scherz und Ironie beiseite, „heiliger Kuhschwanz".

Adolf Lapp im Berliner Tageblatt vom 14. April 1918

NIHILISMUS (3)   In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderliche Phantasten auf der Bühne zu sehen, welche Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Emmy Hennings und meine Wenigkeit darstellen. Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht und schlägt die Hände über dem Kopf zu­sammen. Wir antworten darauf mit Liebesseuf­zern, mit Rülpsen, mit Gedichten, mit «Muh, Muh» und «Miau, Miau» mittelalterlicher Bruitisten. Tzara läßt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnen­gesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt un­aufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreide­weiß wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet. - Man gab uns den Ehrentitel Nihilisten.

Hans Arp

NIHILISMUS (4)  Das, was Picabias Persönlichkeit später, wie wir sahen, in >391< ausmachte: seine absolute Respektlosigkeit gegenüber allen Werten, seine Loslösung von allen Bindungen sozialer wie moralischer Natur, sein Zerstörungsdrang gegen­über allem, was man bisher Kunst genannt hatte, ....

Richter, Kunst und Antikunst ...

ENTE  So wurde am 5. Mai 1919 im St. Galler Tagblatt von einem Pistolen-Duell zwischen Tzara und Arp auf der Rehalp bei Zürich berichtet. Als Zeugen für Tzara wurden Walter Serner und J. C. Heer genannt, als Zeugen für Arp, Kokoschka und Picabia. Dieser Sensations-meldung folgten am 9. Juli 1919 ein Dementi Heers in derselben Zeitung und ein Dementi von Serner, Tzara und Arp am Tag darauf in den Baseler Nachrichten. Zehn Tage später erfolgte eine weitere Erklärung Heers in der Neuen Züricher Zeitung. Die Dadaisten waren in diesem Falle also in drei Schweizer Städten Tagesgespräch gewesen, und Heer weist in seiner zweiten Erklärung auf die Schwierigkeit hin, das Gerücht aus der Welt zu schaffen.

ARCHIMEDES, dadaistischer

 Zürich, Januar 1897
Ich werde sie aus ihren Angeln heben,
Die ganze Welt mit ihrem Zwerggeschlecht.
Denn jener feste Punkt ist mir gegeben
Und auch des Hebels Kunst liegt mir zurecht.

Stettin, Juli 1922
Ich habe sie aus ihrem Bett gehoben,
Die alte Welt, das abgebrauchte Menschenstück,
Das Stück ist aus, das Stäubchen Erde ist zerstoben
Und nur der große Himmel blieb zurück.

Hamburg, Januar 1925
Nicht: „Aus den Angeln!" mit dem festen Punkt: In die Angeln!

Johannes Baader

ZERSTÖRUNG  So zerstörten, brüskierten, verhöhnten wir — und lachten. Wir lachten alles aus. Wir lachten über uns selbst, wie über Kaiser, König und Vaterland, Bierbauch und Schnuller. Das Lachen nahmen wir ernst; erst das Lachen garantierte den Ernst, mit dem wir unsere Anti-Kunst betrieben auf dem Weg zur Entdeckung unserer selbst.

Aber das Gelächter war nur der Ausdruck des neuen Erlebens, nicht sein Inhalt und Zweck. Den Radau, die Destruktion, die Anarchie, das Anti — wa­rum sollten wir das zurückhalten? Was war denn mit dem Radau, der De­struktion, der Anarchie, dem Anti des Weltkrieges? War das etwa nichts? Wie konnte Dada denn anders vorgehen als destruktiv, aggressiv, frech, aus Prinzip und mit Gusto?! Um den Preis, uns selbst mit Vergnügen täglich der Lächerlichkeit darzubieten, durften wir wohl das Recht in Anspruch nehmen, den Spießer einen vollgefressenen Sack und das Publikum einen Stall voll Ochsen zu nennen!

Hans Richter, Dada - Kunst und Anti-Kunst. Köln 1964

ZERSTÖRUNG (2)  ...Protest mit den Fäusten, seines ganzen Wesens in Zerstörungshandlung: Dada; Kenntnis aller Mittel, die bisher das schamhafte Geschlecht des bequemen Kompromisses und der Höflichkeit verwarf: Dada; Vernichtung der Logik...

Tristan Tzara, Manifest Dada 1918

ZERSTÖRUNG (3)

Es gibt eine große Zerstörungsarbeit, Ausfegen, Säubern ...

Tristan Tzara

S.a. Nihilismus

SPAZIERSTOCK  Der Spazierstock galt, so Grosz, als Zeichen eines »Herrn« und als Symbol von etwas Höherem. Die Etikette verurteilte die Spazierstock-Sammlung als Zeichen dandyhafter Neigungen und dürfte Grosz in seinem Tun bestärkt haben. Der Herr »wird, wenn er einen Luxus im Anzug betreibt, diesen in der Wahl und dem Quantum seiner Oberhemden äußern, allenfalls in der Anschaffung einiger Sakkos, aber nie im Behang mit Schmuck oder in einer Spazierstocksammlung«. Wenn Grosz auf der Terrasse im Café des Westens mit einem »schwarzen dünnen Stock, der als Knauf einen elfenbeinernen Totenkopf hatte«, in der Luft herumfocht, so sprach aus diesem aggressiven Akt öffentlicher Raumnahme eine nihilistische Verachtung der Mitmenschen, die mit dem Verhalten eines Gentleman nicht mehr in Einklang stand.

Aus: Peter-Klaus Schuster (Hg.), George Grosz - Berlin New York. Ausstellungskatalog Berlin 1994

DADASOPH  Da erhob sich der Dadasoph von der Brille des Dada-Riesen-Abtritts und hielt folgende Rede Ich bin der Dadasoph von Anbeginn bis zum Ende Ich halte die Schnapsflasche in meiner linken Hand und den Radiergummi in der rechten Mir kann keiner Die Buchstaben tanzen zu meinen Ohren hinaus und mein Bauch schlägt Wellen nach dem Takt des Hohenfriedberger Ich schlage mit meiner Peitsche von Osten nach Westen und die jungen Läuse denen ich wohl will jauchzen auf meinen Fingern Mein Kopf liegt im Nil und meine Beine hacken das Eismeer auf doch niemand weiß wozu es gut ist Das ist Dadaco das Buch der Sonne aber auch die Sonne weiß nicht wozu es gut ist Seht den weißen Dampf der sich aus meinen Nüstern über die Erde verbreitet - sehet den Schatten den meine Lippen werfen Ich bin der junge Mond der in Wasserstiefeln bei der Abfahrt der Züge steht ich bin das Kalb das an den Regentraufen im Parademarsch hinaufsteigt Ja ja da staunt ihr Erdlümmler und Blindschleichen da reibt Ihr die Nase an dem Petroleumtank aber es ist noch nicht aller Tage Abend Jemand kam mit der Ziehharmonika und spielte den Elefanten zum Tanze auf Ich bin der Meteor der aus den Brustwarzen des Mondes fällt Ich bin der Zylindergiebel den John Heartfield montiert Hé Ihr Erdarbeiter und Abdecker sperrt die Bäuche auf und tretet das Haar unter Eure Füße Das Gericht beginnt der große Tag der Abrechnung ist da.

Richard Huelsenbeck, Phantastische Gebete. Zürich 1960 (zuerst 1916)

PRESSEMELDUNG  Man schreibt uns aus PARIS : Am 15. des Monats wurde in der Salle des Paumes der zweite dadaistische Weltkongreß eröffnet. Der Ober-Dada  [!] Dr. Walter SERNER, der Vorsitzende des Kongresses, hielt die Eröffnungsrede, in der er mitteilte, daß Dada nach kaum zwei Jahren heftigen Kampfes Religion, Kunst und Wissenschaft unter seinen tellurischen Kräften verschüttet und neues Erdreich für die gedeihliche Pflanzung einer ideenfreien, triebstarken und aufrichtigen Kultur aufgeworfen habe. Der Kampf sei jedoch noch nicht beendet, es würden noch große Anstrengungen erforderlich sein, um jede neuerliche Erhebung des eitlen Gezüchts unmöglich zu machen. Hierauf forderte er die Teilnehmer auf, Vorschläge zu machen, welche die Erreichung dieses Ziels beschleunigen könnten. Georges RIBEMONT-DESSAIGNES stimmte für die allgemeine und direkte Geistessabotage. Bücher, Bilder, Plastiken usw., kurz alle Geisteserzeugnisse seien, wo immer es anginge, ohne Entdek-kung fürchten zu müssen, zu vernichten, oder doch schwer zu beschädigen. Diesem Vorschlag schloß sich Francis PICABIA an, riet aber, sämtlichen lebenden Künstlern Europas einen Dada-Ukas zuzusenden, der sie vor weiterer künstlerischer Tätigkeit warnt, da sonst in wenigen Jahren ihre Existenz untergraben sein könnte. Dr. Serner ergriff abermals das Wort und forderte systematische Demoralisierung (d.h. Neomoralisierung) des europäischen Bürgers durch geheime sexuelle Aufklärung. Er habe über die zu diesem Zweck anzuwendenden Mittel und Wege einen Traktat ausgearbeitet, den er in privater Sitzung vorlegen werde. Am Schluß seiner Ausführungen verlangte er für seine, für die Entwicklung des Dadaismus so wichtige Entdeckung, daß alle Propheten, Künstler, Revolutionäre usw. Hochstapler seien, das Dada-Patent. Es wurde ihm einstimmig erteilt, worauf Tristan TZARA beantragte, die allgemeine Geistsabotage durch die sogenannte »Conversation-dada terrible« (brachiale Argumentierung, Schreckschüsse usw.) zu verschärfen. Zu diesem Programm sprachen noch die Dadaisten Philippe Soupault, Paul Eluard, Louis Aragon und André Breton. Hierauf wurde zur Wahl der Dada-Leader für die einzelnen Länder geschritten. Es wurden gewählt: für Deutschland Walter MEHRING; für Österreich, die Tschechoslowakei und Rußland Dr. Serner; für England und die nordischen Länder Georges Ribemont-Dessaignes; für Frankreich und den Balkan Tristan Tzara; für Amerika, Australien und Spanien Francis Picabia; für Italien J. Evola; für Asien Jean Cocteau; für Danzig Baader. Die Anerkennung des bisherigen deutschen Dada-Leaders Hülsenbeck wurde mit der Begründung abgelehnt, daß er einerseits die deutsche Sprache nicht beherrsche (!) und andererseits an seriösen deutschen Kunstzeitschriften mitarbeite.

J. L. [Berliner Börsen-Courier Nr. 542, 19.11.1929 (- sic!)] - Nach: Walter Serner, Das Hirngeschwür. DADA. Gesammelte Werke II, Hg. Thomas Milch. München 1988, s.a. ENTE

MATINEE  Am 30. November 1919 fand eine Dada-Matinee in dem Avantgarde-Theater »Tribüne« statt. Zum ersten Mal traten die verschiedenen Fraktionen der Berliner Dadaisten gemeinsam auf. Huelsenbeck erfüllte die Rolle des Spielleiters. An der Vorführung »Reklamebüro Bum-Bum-Dada« waren Baader (Präsident des Weltalls), Ehrlich (Tänzer), Grosz (Marschall Grosz), Hausmann (Herr), Heartfield (Monteurdada). Herzfelde (Diener), Huelsenbeck (Reklamechef) und Mehring (Vertreter der Pinkertongesellschaft) beteiligt. Grosz tanzte »Foxwalk und Caketrott«. Hannah Höch berichtet von den Grosz-Auftritten: »Wenn George Grosz das Wort hatte - so gefiel er sich im Erzählen atemberaubender, erschwindelter Erlebnisse. Ich glaube, er versetzte sich dann in eine Seemannskneipe. Er hatte eine ganz persönliche Sprechtechnik für diesen Zweck entwickelt - indem er die Sätze immer abbrach und den Faden an einer ganz anderen Stelle wieder aufnahm und weiterspann. Wenn man im Saal unruhig wurde ... dann griff plötzlich John Heartfield ein, indem er einen markerschütternden Ton ausstieß, einen Urwaldschrei. ... Aber Grosz verstand es auch, eine Programmlücke unvermittelt mit einer höchst befremdlichen Pantomime zu füllen. Er versetzte Gegenstände, boxte gegen einen vermeintlichen Gegner, oder begann an einem Bild zu malen, welches gar nicht da war.«   

- Peter-Klaus Schuster (Hg.), George Grosz - Berlin New York. Ausstellungskatalog Berlin 1994

 ALLEINVERTRETUNG  Ich erfahre eben von Hausmann Eure in unverschämtem magistralen Tone aufgesetzten Richtlinien und Programmpunkte. Wir sind der Ansicht, daß Ihr in Eurem Nest dort überhaupt keine Ahnung habt. Wir verbitten uns jede Einmischung in unsere Angelegenheiten. Die Centrale des Dadaismus ist in Berlin.

Huelsenbeck nach Paris (Tzara?), nach: Raoul Schrott, Walter Serner und Dada. Siegen 1989 (Vergessene Autoren der Moderne XLI)

HAPPENING

 Mit Baader habe ich auf der Straße den 100. Geburtstag  Gottfried Kellers gefeiert; wir setzten uns mitten auf die Fahrbahn, zwischen die Autos, unter die großen glühenden Kohlelampen, und wir lasen Sätze aus dem Grünen Heinrich von Gottfried Keller, indem wir von vorne nach hinten und von hinten nach vorne blätterten; es war sehr schön. Happenings hatten wir schon 1905 veranstaltet, und zwar in der Düsseldorfer Wohnung Baaders, wo es keine Heizung gab, weil er sehr arm war. Als es läutete und die Leute ankamen, begann er sofort, sich auszuziehen und legte sich auf einen großen grünen Divan, und die Leute glaubten, ihren Augen nicht zu trauen.  

Raoul Hausmann, nach: Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs: Raoul Hausmann. DADA und Neodada. Innsbruck 1994

HADO  Überall, wo es möglich war, riß er [Baader] ganze Plakate von den Wänden oder den Litfaßsäulen und trug sie nach Hause, wo er sie sorgfältig klassifizierte. Er hat unter anderem ein .Handbuch des Oberdada' (HADO), auf hunderten von Tageszeitungen als Untergrund, täglich durch neue Dokumente und farbige Flecken, Buchstaben, Ziffern oder auch figürliche Darstellungen vermehrt, aus seiner Plakat-Ernte geklebt. Er schuf damit eine Art Montage-Literatur oder -Poesie. (...) Das erste HADO wurde am 26. Juni 1919 um 3 Uhr nach­mittags vollendet, ein zweites am 28. Juni 1920, wie Baader mit Genauigkeit im Katalog der DADA-Messe angab.

Raoul Hausmann

DADAIST  Der Bürger sah im Dadaisten einen lockeren Unhold, revolutionierenden Bösewicht, sittenrohen Asiaten, der es auf seine Glocken, Kassenschränke und Ehren abgesehen hat. Der Dadaist ersann Streiche, um dem Bürger seinen guten Schlaf zu rauben. Er sandte Falschmeldungen an die Zeitungen von haarsträubenden Dada-Duellen, in welche sein Lieblingsschriftsteller, >Der König der Bernina<, verwickelt sein sollte. Der Dadaist ließ den Bürger Wirrwarr und fernes, jedoch gewaltiges Beben verspüren, so daß seine Glocken zu summen begannen, seine Kassenschränke die Stirne runzelten und seine Ehren fleckig anliefen. ›Das Eierbrett‹, ein Sport- und Gesellschaftsspiel für die oberen Zehntausend, bei welchem die Teilnehmer, vom Scheitel bis zur Sohle mit Eigelb bedeckt, den Kampfplatz verlassen; >Die Nabelflasche<, ein ungeheuerlicher Gebrauchsgegenstand, in dem sich Fahrrad, Walfisch, Büstenhalter und Absinthlöffel paaren; ›Der Handschuh‹, der an Stelle des altertümlichen Kopfes getragen werden kann, sollten dem Bürger die Unwirklichkeit seiner Welt, die Nichtigkeit seiner Bestrebungen, selbst seiner so einträglichen Vaterländereien, veranschaulichen. Dies war natürlich von uns ein naives Unterfangen, da ja der normal organisierte Bürger über weniger Phantasie als der Wurm verfügt und an Stelle des Herzens ein überlebensgroßes Hühnerauge sitzen hat, welches ihn nur bei Wettersturz, das heißt bei Börsensturz, zwickt.  

Hans Arp, nach: Hans Richter, in: Dada - Kunst und Anti-Kunst. Köln 1964

UMFORMER   Kurt Schwitters besaß eine ungeheure Kombinationsfähigkeit und wandte sie, aus sowohl geistiger wie pekuniärer Sparsamkeit (um nicht zu sagen Geiz) dazu an, aus Funden Anderer etwas Neues, ihm Gehöriges, wie er fest überzeugt war, zu machen: Schwitters war ein Genie, Fremdes so zu kombinieren, daß es als ,anders', als NEU erschien. Er war ein großer ,Umformer'. Dies war sein besonderer Charakter und dies war ihm besonders zu eigen und für ihn originell. Die Nachwelt wird in Schwitters' Umformungen sicher Wesentliches erkennen und Dinge hineinsehen, die ihm nur zufällig zugekommen waren. 

Raoul Hausmann, Am Anfang war DADA. Giessen 1980

SKANDAL (Pariser Dada)  Beim Dada-Feste im Saale "Gaveau" war der Skandal  gross. Zumn ersten Male seit die Welt steht warf man auf die Bühne nicht nur Eier, Salatköpfe und Kleingeld, sondern auch Beefsteaks.  Das war ein sehr grosser Erfolg, das Publikum war sehr dada. Wir hatten schon gesagt, dass die wahren Dadaisten gegen Dada waren. Philippe Soupault trat als Zauberkünstler auf.  Unter der Beschwörung des Papstes,  Clémenceaus und Fochs flogen Kinderballons aus einem Koffer und stiegen zur Decke.  Paul Souday schrieb in seiner Kritik im "Temps", dass in der Tat aus einer gewissen Entfernung die Gesichter dieser beschworenen Persönlichkeiten auf der Oberfläche der Ballons zu erkennen gewesen waren.  Der Saal war dermassen erregt und dle Atmosphäre so geladen, dass noch manche andere Suggestion einen Schein von Realität gewann. Ribemont-Dessaignes zeigte einen unbeweglichen Tanz und Fräulein Buffet interpretierte dadaistische Musik.  Eine Momentphotographie bei Magnesiumlicht während eines Stückes von mir für die Zeitschrift "Comoedia" aufgenommen, zeigte alle Personen des Saales mit erhobenen Armen und zum Schreien geöffneten Mündern.  Alle Pariser Persönlichkeiten waren anwesend. Mme Rachilde hatte in einer Zeitung einen Artikel geschrieben, in dem sie einen Poilu aufforderte, uns mit Revolverschüssen zu töten.   

Raoul Hausmann, nach: Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs: Raoul Hausmann. DADA und Neodada. Innsbruck 1994

POTSDAM  Ich erinnere mich an Schwitters' ersten öffentlichen Vortrag der ›Ur-Sonate‹ bei Frau Kiepenheuer in Potsdam, ungefähr 1925. Eingeladen waren die 'besseren' Leute, und das hieß in Potsdam, der militärischen Hochburg des alten preußischen Reiches, eine Menge pensionierter Generäle und andere 'Hochgestellte'. Schwitters stand mit seinen zwei Metern aufrecht auf dem Podium und begann die Ur-Sonate mit Zischen, Brüllen und Krähen vor einem Publikum, das in allem Modernen völlig unerfahren war. Zuerst war es völlig konsterniert. Nach zwei Minuten aber verlor sich der Schock. Für eine weitere halbe Minute hielt der Respekt vor Frau Kiepenheuers wohlanständigem Haus noch irgendwelche Proteste in Bann. Aber diese Zurückhaltung akkumulierte nur die innere Spannung. Ich sah mit Entzücken, wie zwei Generäle vor mir die Lippen mit äußerster Gewalt zusammenpreßten, um nicht zu lachen, wie ihre Gesichter über dem hohen Stehkragen erst rot, dann leicht blau wurden. Und dann geschah plötzlich das, wofür sie nicht mehr verantwortlich waren: - sie platzten vor Lachen, und das ganze Publikum, befreit von dem Druck, der sich in ihm angesammelt hatte, explodierte in einer Orgie des Gelächters. Die vornehmen alten Damen, die steifen Generäle, schrien, nach Luft schnappend, vor Lachen, schlugen sich auf die Schenkel, husteten.

Das alles störte Kurtchen keineswegs. Er schaltete nur seine trainierte und enorme Stimme auf Lautstärke zehn um, die den Lachsturm im Publikum übertönte, so daß dieser fast zu einer Begleitmusik der Ur-Sonate wurde. Um ihn herum brandete es wie das Meer, gegen das zweitausend Jahre früher Demosthenes die Kraft seiner Stimme erprobt hatte. So schnell, wie der Orkan entstanden war, verging er wieder. Schwitters sprach seine Ur-Sonate ungestört zu Ende. Das Resultat war fantastisch. Dieselben Generäle, dieselben reichen Damen, die vorher Tränen gelacht hatten, kamen nun zu Schwitters, wieder mit Tränen in den Augen, um ihm ihre Bewunderung auszudrücken, ihre Dankbarkeit, beinahe stotternd vor Begeisterung. Etwas war in ihnen geöffnet worden, etwas, das sie niemals erwartet hatten: - eine große Freude.

s. a. LAUTGEDICHT

Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

EHRENDADA  Das Meisterstück lieferte Baader, als er von Hausmann und anderen Instruktoren umgeben auf der Straßenbahn nach Steglitz den Reichstagsabgeordneten Philipp Scheidemann erspähte. Scheidemann blieb auf der hinteren Plattform der Bahn durch Baader und seine Gefolgschaft eingeschlossen. Baader, der sich einen pastoralen Vollbart zugelegt hatte, hielt eine Ansprache, mit einer dröhnenden Stimme, die straßenweit zu hören war, und ernannte Philipp Scheidemann zum Ehren-Dada. Scheidemann wußte nicht, wie sich verhalten - schließlich sprach das „Volk" zu ihm, er war sehr verlegen, und es dauerte geraume Zeit, bis er entweichen konnte. Wenige Wochen darauf wurde Philipp Scheidemann zum Reichskanzler der Republik ausgerufen; der Anschluß Dadas an die Revolution war hergestellt.

Franz Jung, Der Weg nach unten.  

EHRENDADA (2)

 

Johannes BAADER: Oberdada. Schriften, Manifeste, Flugblätter, Billets, Werke und Taten. Hg. Karl Riha u.a. Lahn-Gießen 1977

KÜNSTLER  Der Sammler — der wahre Sammler, derjenige, den ich dem kommerziellen Sammler gegenüberstellte, der aus der modernen Kunst eine Wallstreet-Affäre gemacht hat... dieser Sammler ist, meiner Meinung nach, ein Künstler «im Quadrat». Er wählt Bilder aus und hängt sie an seine Wände, mit anderen Worten: er malt sich selbst eine Sammlung.

Marcel Duchamp 1958, nach: Richard Huelsenbeck (Hg.), Dada - eine literarische Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1964

UNDADAISTISCH   In den Briefen an Tzara beschimpften Hausmann und Huelsenbeck Baader als undadaistisch egoistisch: »Ne prenez pas, s'il vous plaît, je vous prie, des œuvres de Baader - il est rénégat d'une couleur bourgeoise et fait sabotage egoiste. En future il n'est pas membre du Club Dada.« Und am 26. März 1919 schrieb Hausmann Tzara nach einer Veranstaltung im Café Austria: »Monsieur Baader s'est démasqué parfaitement comme prètre. Il m'est impossible de rester uni avec un homme qui fait sa philosophie sérieuse...« Baader hatte sich jedoch schon so weit in den Club Dada eingenistet, daß es auch Huelsenbeck unmöglich war, ihn nicht für den ›Dadaco‹ zu berücksichtigen. Ja, die drei sollten sogar eine Dada-Tournee im Frühjahr 1920 starten, auf deren vorletzter Station in Prag Baader eine Stunde vor der Veranstaltung abreiste, mit der Dada-Kasse im Gepäck.  

Hanne Bergius, Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen 1989

DADA-ENDE  (und der Schuldige)   Weshalb  Hülsenbeck und der Dadaismus noch vor der eigentlich Wirksamkeit, vor der Ueberwindung des Gestern scheitern musste, dies hatte einen seltsamen Grund: die Existenz eines Querkopfs, eines Menschen, der nicht die Konsequenz seiner Veranlagung ziehen konnte. Es war der Oberdada Baader, ein echter Harzer Kanarien-Edelroller, ein Mann, der nicht der deutsche Rasputin werden konnte, weil er eine ganz ungeheuerliche Eigenreklamesucht und ein opportunistisches Gebahren sein eigen nennt - und also statt den Dadaismus zur mittelalterlichen Sekte zu machen, aus ihm gerade das amerikanische entfernte, weil er auf eine flohzirkusmässige Art amerikanisch sein wollte. Es war Richard Hülsenbecks Schuld, mit diesem Baader, diesem entsetzlichen Kanarienvogel, nicht vorsichtig und psychologisch genug umgegangen zu sein: Dieser Autophonete war gerissen in jeder Beziehung und wurde durch ein ganz kleines Manöver des Dadaismus Herr - er führte in unsere demokratische Respektlosigkeit den Unteroffizier ein und verteidigte ihn mit solcher Hartnäckigkeit, dass seine Ausrottung nicht mehr gelang. Ich selbst trage hier mit eine Schuld, wenn man meine Art, Baaders eigentliche Tendenzen als Christus entweder bis ins Barbarische oder bis zur Auflösung zu treiben, als Schuld ansehen will. 1917 war ich auf den Gedanken gekommen, die deutschen Deserteure zu einer Sekte zusammenzuschliessen, die den Namen Christus G.m.b.H. führen sollte - jeder Anhänger der Sekte sollte nach Einzahlung von Mk 75.- Christus in sich verwirklichen und dadurch sich vor die Unmöglichkeit der militärischen Dienstleistung gestellt sehen. Baader war von mir zum Haupt der Sekte ausersehen, ich putschte seine finstersten Instinkte auf, versprach ihm einen Purpurmantel und eine von uns veranstaltete Echternacher Springprozession auf dem Potsdamer Platz, nachdem Berlin wochenlang beunruhigt würde mit Plakaten, die nur Bibeltexte enthalten und auf die Wiederkehr Christi hinweisen sollten - zuletzt scheiterte alles an dem Geld, das mir Franz Jung zwar versprochen, aber nicht gegeben hatte. Da beschloss ich, mit Hülsenbeck zusammen den Dadaismus auf die schon stark ratlosen Leute loszulassen, um wenigstens etwas zur Auflösung zu bringen. Richard nahm alles zu phantastisch, er ging mit der Kasse durch - und so beredete ich schnell Baader zu Dada, ihn versuchend wie Satan den Christus, indem ich ihm sagte, Dada wäre das magische Stichwort für Christus und wir seine Streiter. Damals konnte man Baader mit dem Phantom Christus zu allem bringen, erst viel später hatte er die Eigenreklamemöglichkeiten, die der Dadaismus ihm bot, begriffen. In diesem unglückseligen Moment, oder vielmehr durch eine Nachlässigkeit meinerseits, glückte es Baader durch Annahme eines gedankenlosen Zurufs Jacobsohns von der Weltbühne, sich zum Oberdada zu stempeln. Was half es, dass ich Hülsenbeck, nachdem ich mit Baader ein Jahr lang allein, ohne Geld, ohne etwas anderes zu tun, als die deutsche Presse mit geschickten Enten zu versorgen, die sie alle prompt abdruckte, wieder zurückholte aus Brandenburg a.H., wo er sich in der Rolle eines Militärunterarztes gefallen hatte, und seine gesamte Würstelvitalität gegen Baader und gegen die sich langsam sich wieder setzende deutsche Umwelt mobil machte (wir gaben damals die berühmten 13 Punkte des Dadaismus heraus) - der Oberdada hatte im deutschen Volke Platz und Gunst gewonnen, einfach weil dieses Volk hinter dem Ober den ihm so sympathischen Polizisten oder Unteroffizier, jedenfalls was Beamtetes witterte. Von da an war unser Kampf gegen die intellektuelle Sippschaft unterminiert, denn Baader gab bald den ganzen Christus-Rummel, der ihm nie etwas eingebracht hatte, auf, nachdem er sich zuerst zum Präsidenten des Weltalls und bald darauf zum Präsidenten des Weltgerichts ernannte hatte. Ich war auch hier wieder schuldig: denn in meiner Dummheit, in meiner Wut, dass nichts geschah, um Johannes den i. vorwärtszutreiben, gestand ich ihm, dass Dada das Weltgericht bedeute. Als Baader diese Positionen erobert hatte, wurde er wie Gott das, was er ist, sein und bleiben wird: ein humorloser deutscher Bierphilister, an dem nichts komisch ist, als die Art, wie er sich selbst mit aller Kraft seinen spiessigen Ernst in übermenschliche Heiterkeit umdeutet und in dieser Beschäftigung das Ziel seines Lebens gefunden hat. Dieser fürchterliche Opportunist, der nie verstand, dass Dada für den Bürger etwas Unangenehmes sei, hat aus unserer agressiven Vitalität seine Meggendorfer Humorseele [„Meggendorfer Blätter, Ztschr. f. Humor u. Kunst“] gemacht - genauso phantasievoll wie der Bürger es sich wünschte, und Herr Baader wirklich ist. Hier gestehe ich es: In meiner unbändigen Wut, in Deutschland eine Bewegung gegen den alten und neuen schöngeistigen Schwindel loszulassen und in meiner Ungeduld, die in meinem Experimentieren mit Menschen lag, habe ich meine eigene Arbeit verdorben, habe ich den deutschen Dadaismus, dessen besondere, nihilistische Richtung ich herausgebracht hatte, das frühe Grab gegraben; die Aufgabe, an lebenden Menschen die eine oder andere Position, Mittelalter oder Amerikanismus, grell aufzuzeigen, die Umwelt der Intellektuellen damit in einen Abgrund oder Explosion zu treiben, habe ich falsch angefasst, ich handelte inobjektiv, als ich Baader den Christus wegnahm und ihn amerikanisieren wollte, weil ich selbst Präsentist  und Dämlack bin - und so drücken sich denn die deutschen Intellektuellen weiter an der Wand lang, immer an der Wand lang.

Hausmann, Anfang der 20er Jahre, unmittelbar nach dem Ende Dadas in Berlin...

PHILOSOPHIE  Kant - das ist der Erzfeind, auf den alles zurückgeht. Mit seiner Erkenntnistheorie hat er alle Gegenstände der sichtbaren Welt dem Verstande und der Beherrschung ausgeliefert. Er hat die preußische Staatsraison zur Vernunft erhoben und zum kategorischen Imperativ, dem sich alles zu unterwerfen hat. Seine oberste Maxime lautet: Raison muß a priori angenommen werden; daran ist nicht zu rütteln. Das ist die Kaserne in ihrer metaphysischen Potenz.

Hugo Ball

URSONATE

Vgl. POTSDAM, vgl. LAUTGEDICHT

ICH   Ich bin ein Mensch mit einer ungeheuren Wut und trage fortwährend eine lose sitzende Backpfeife in der Hosentasche mit mir herum.

Raoul Hausmann: Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang. Manifest von Dadas Tod in Berlin. Berlin, vermutlich 1921

 KONSTRUKTION (für edle Damen)

 

Kurt Schwitters 1919

GRUNDSÄTZE, dadaistische  Die Mitteilung einiger Pariser Dadaisten beruht auf einer sehr widerspruchsvollen Auffassung der dadaistischen Grundsätze. JEDER DADAIST WIRD BEKANNTLICH SOFORT PRÄSIDENT. Wenn also Dadaisten das Recht, zu präsidieren, einem Dadaisten absprechen, indem sie ihm Größenwahn vorwerfen, so sind sie, wenn nicht vielleicht selbst von diesem Übel befallen, jedenfalls heftig im Widerspruch mit einem ihrer wichtigsten Grundsätze. Und da es ferner gleichfalls bekannt ist, daß der Dadaismus lediglich eine Fingierung des an sich bereits fiktiven Weltgeschehens zum Zwecke einer allgemeinen tödlichen Paraphrase ist, stellt sich die plötzliche Unterscheidung der Pariser Dadaisten zwischen fingiertem und nicht fingiertem Geschehen als ein noch weitaus bedauerlicherer Widerspruch heraus, der die Feststellung rechtfertigt, daß es den Pariser Dadaisten lediglich um eine vorübergehende Überzeugung sich handelte, die der landläufigen literarischen weichen mußte. gez. Dr. Serner.« [BERLINER BÖRSEN-COURIER Nr. 611, 51. 12. 1920.]  

Walter Serner, nach: Das Hirngeschwür. DADA. Gesammelte Werke II, Hg. Thomas Milch. München 1988

GUTACHTEN, graphologisches  Spasseshalber eine Charakteristik meiner Schrift von einer Gerichtsgraphologin, die nichts von mir weiss: wahrheitsliebend ohne jegliches Pathos, ganz entschieden, starker Mensch, fähig die Sachen selbst zu sehen, klar, gegen sich schroff, viel verlangend ohne Hochmut gegen andre, nicht Eindruck machen wollend, ohne Eitelkeit. Starker Stolz, sich selbst nur in gewisser Höhe ertragend. Stark verschlossen. Sehr beherrscht und sehr weit. Bei aller Strenge gebändigtes, starkes Empfinden, kann schroff sein, aber immer nur aus inneren Forderungen an sich selbst, die manchmal überspannt sind. Nun, was überspannt ist, das muss ich schon selbst wissen....  

Raoul Hausmann

MASCHINENGEWEHR  Selbstverständlich ist Gott in Butter zerflossen, selbstverständlich muss der Schieber schieben und Ordnung muss sind: nur uns kotzt dieser Geist, diese Kunst, diese Wissenschaft: dieser Bürgerdreck an//. Nur wir propagieren die absolute Wertlosigkeit alles Bestehenden///. Nur wir lieben den Bluff, nicht weil wir heiter sind/. Dada ist das proletarische Maschinengewehr, das den Bourgeois Kant genau so niederknallt, wie den Schieber Puffke, und die Handgranate, die das Gewicht der Erde dem Gewicht der bürgerlichen Wissenschaft und der bürgerlichen Klassenjustiz gleichmacht /. Dada ist die Energie der geistigen Sabotage an der technischen Nothilfe der Weimarer Bierbauchkultur/././.

Raoul Hausmann, Notizen (1920)

GRUPPENDYNAMIK

Hausmann brüllte,
Heartfield kreischte,
Herzfelde berechnete,
Hülsenbeck sprang ihnen ohne Hosen ins Gesicht.

Hans Richter, Nachwort zu Walter Mehrings Berlin-Dada

Die Mitglieder des 'Club Dada' waren eifersüchtig und lieferten sich oftmals recht kleinliche Angriffe und Kämpfe. Die Heartfield-Herzfelde und Mehring beteten George Grosz, diesen Pseudo-Revolutionär, an, Huelsenbeck betete nur Huelsenbeck an; obgleich er mit mir die meisten unserer 12 Manifestationen gemacht hatte, war er immer bereit, zu den Groszisten zu neigen. Auf der anderen Seite sonderte ich mich mit Baader ab, der unglücklicherweise zu oft von seinen religiös-paranoischen Ideen besessen war.

Raoul Hausmann

Huelsenbeck über Tzara:

Tzara, der Troubadour der Bewegung, der sich in den von meiner Seite unkontrollier-baren Ententeländern gern als der Grün­der des Dadaismus ausgibt, hat vor kurzem in der Pariser „Litterature" (jetzt Dada) in einer Antwort auf einen Angriff, der ihm Abhängigkeit von den deutschen Dadaisten vorwarf, gesagt, er könne nichts dazu, wenn sein Dadaismus von einem Dutzend Deutscher nachgemacht werde. Das spricht für das kleine Gehirn dieses Herrn, der in der Literatur eine Möglichkeit sieht, seinem Ehrgeiz Form zu geben. ....

... Tzara hat sich unterdessen, wie das bei Aspiranten nach der Unsterblichkeit öfter vorkommt, mit Ball furchtbar verzankt. Rechtsanwälte werden mobilisiert und Briefe mit drohenden Anreden und hinter Höflichkeiten kachierter Mordlust surren hin und her.

Aus: Huelsenbeck / Tzara: Dada siegt! Bilanz und Erinnerung. Hamburg 1985 (zuerst 1920)

Richter über Tzara:

Deine Neider nennen Dich einen Arrivisten, weil Du dort angekommen bist, wo sie hinwollen. Deine Feinde bezichtigen Dich verräterischer Praktiken, weil sie Dir manchmal in Deinen Intrigen unterlegen waren. Du warst weder ein Engel noch ein  Teufel - außer gelegentlich für Deine Damen. Du hast alle Tricks benutzt, die Du  kanntest — und das waren viele — und zu denen Du Gelegenheit hattest. Du warst von  jener gerissenen Unschuld, die jeden Widerstand als ein Unrecht in einem selbst fühlbar machte. Du hattest alle Fehler, deren man Dich anklagte. Aber Du warst eben zehnmal begabter als Deine Ankläger.

Richter, Begegnungen ...

Baader an Huelsenbeck ...

Lieber Huelsenbeck! Du bist ein guter Junge mit 10 % Zucker aber Du mußt nicht zetern weil ich auf deinen dada gestiegen bin. Das tun nur kleine Kinder, daß sie weinen, wenn man ihr Weihnachtspferdchen reitet. Aber es schadet trotzdem nichts wenn Du mir darum Injurien an den Kopf wirst. Ich kann Dich auch es brauchen (!). Und wenn Du mir die Konjunktur im Bordell nicht gönnen willst: ich für mich kenne keinen Brotneid. Unter meiner Herrschaft können alle Dadaisten segeln was sie Lust haben. Immer weiter segeln, lieber Huelsenbeck, und wenn Dir mein Gaul zu groß wird, mußt Du Deinen noch groeßer machen, nicht den meinen köpfen. Denn wenn es blutet kriegst du Angst, schiffst in die Hosen und beschmutzst Dir Deine Schenkel... Der internationale Oberdada: Baader Bm. 12, Berlin XII

(An den Weltdada Huelsenbeck, sitzend auf den traurigen Ueberresten seines Dada-Almanach, Dortmund, bei seiner Mama und Papa in Dadaco)  

Nach: Hanne Bergius, Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen 1989 

Und Hans Baumann, ein Zürcher Dadaist, offenbar von Huelsenbeck inspiriert, über Baader...

Zu  dieser Zeit war Johannes Baader, der spätere „Oberdada" und Präsident des Weltalls noch Architekt oder Schneider­geselle oder Friseurgehilfe, jedenfalls ein bourgeoiser Narr, der in einer Berliner Vorstadt sich damit beschäftigte, Tagebücher und Aufrufe für Menschheiten und andere imaginäre Persönlichkeiten zu verfassen. Die große Berühmtheit verdankt das deutsche Dada dann dem  von Huelsenbeck,  Hausmann und Groß im April 1918 in der Berliner Sezession gegebenen Monstre-Abend. Die  Presse schwoll an wie das Meer zur Zeit des Neumonds, einige Kritiker, z. B. ein Herr Kauder (kleiner Schreibung von der B. Z. am Mittag) gerieten in Weißglut. Es war sehr schön. Wie Herr Baader  zum Dadaismus gekommen  ist, weiß er selbst nicht. In seinem Buch „Der Oberdada", welches eine in kirchlichen Rhythmen aufgezogene Münchhausiade darstellt, die sein Leben sein soll, will er den Dadaismus 1896 in Zürich erfunden haben,  als er dort, man weiß nicht was, tat und arbeitete.  Er singt davon wie ein besoffener Organist („schwarze Wolke über dem See liegend — Feuerwerk-Sonne, die auf dem Cabaret Dada  brennt") höhere Mächte, Not, Engel spielen eine große Rolle: der Mann hat schon das Repertoire zur Verfügung, mit dem er später unter dadaistischer Maske viel Geld zu kassieren hoffte. Man muß sich von vorne herein darüber klar sein, daß diese Person Baader, die im Dom eine Rede hielt, in der Nationalversamm­lung Dada-Reklamezettel abwarf, nebenbei das Aeußere eines behäbigen schwäbischen Pastors oder Kleinbürgers hat, mit dem Fimmel der Gottseligkeit kleine Geldgeschäfte zu machen sucht. In einem Brief an seinen Vater vom 11. August 1899 heißt es bezeichnenderweise: „und mache das Gottgeheimnis kund... denn wenn ich von meinem Verleger 30000 Mark für meine Schrift will, so . . ." Im August 1899 saß er zum ersten Mal im Tollhaus. Das besagt ja weiter nichts und man wird keinen Menschen des­wegen verurteilen, aber der „Oberdada" bringt seine Erlebnisse in Romanform unter die Leute. Es interessiert das Publikum, wenn man in Irrsinn macht, und dazu religiöser Schwindel — als Christus-Imi­tator: das ist einfach glänzend. Man muß nur ver­stehen, die Konjunktur auszunutzen. Dada kam Herrn Baader, nachdem er einmal begriffen hatte, um was es sich handelt, wie gerufen. „Er hatte", wie es heißt, „seine Aufgabe in der Menschheit er­kannt und strebte rücksichtslos danach sie auszu­führen." Bis jetzt mußte er sich damit begnügen, die Jungfrau Maria zu besingen und von den Leuten für ein Idiot gehalten werden, was ihm wenig ein­brachte und überhaupt seinen Ehrgeiz und seiner kleinbürgerlichen Sucht nach Ruhm und Ehre nicht entsprach. Er versuchte zwar manchmal durch einen besonderen Coup, Geld und Auf­merksamkeit seiner Mitmenschen in das Feld seines biblischen Magnetismus zu ziehen, aber es gelang ihm nicht. Er spielte mit wechseln­dem Geschick Statistenrollen bei Hagenbeck in Hamburg, bei einer Magdeburger Bau- und Creditbank. Er überraschte die Mitwelt mit dem Vorschlag einen neuen Turm von Babel zu bauen. Er agierte ab­wechselnd als Prophet, Heiland und Bettelmönch und war dem Hungertode nah, als sich ihm eines Tages Dada als Möglichkeit bot, die Pläne einer gesicherten Lebensführung zu verwirklichen. Mit Dada trat er gewissermaßen auf die Erde herab. Die Engelstaffage, den Gott-Donner und die Christus-Schminke konnten ja bleiben für alle Fälle (die Reklame-Reser­ven können nie groß genug sein). Baader hat mit dem Dadaismus nichts zu tun, weder hinsichtlich seiner Gründung noch in Bezug auf die repräsentative Vertretung der dadaistischen Idee. Baader ist immer Pastor und Weltverbesserer geblieben, d. h. er hat im Grunde seine eigene Lage zu verbessern gesucht. usw.

Dada-Almanach 1920

ARP

DADALOGIE

NEO-DADA   Neo-Dada, das sie jetzt Neo-Realismus, Pop-Art, Assemblage, etc. nennen, ist ein ziemlich billiges Unternehmen und lebt von dem, was Dada tat. Als Du die 'Ready-mades' etabliertest, dachtest Du, die "Ästhetik wie bisher" zu entmutigen. In Neo-Dada benutzt man dagegen die 'Ready-mades', um einen ästhetischen Wert-an-Sich zu entdecken. Du warfst ihnen den Flaschentrockner und das Pissoir ins Gesicht als eine Herausforderung - und jetzt kommen sie und bewundern es für die ästhetische Schönheit. Es ist eben (und an erster Stelle) eine vielfältige Geschäfts-Angelegenheit der Galerien, der Maler, der Museen und der Kritiker, denn 'business' muß weitergehen   Hans Richter an Marcel Duchamp, nach: H. R., Kunst und Anti-Kunst...

DADA-DEFINITION

 

ABC Dada

 

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