achschindel »Hoffentlich verlaufe ich mich nicht! Ich kenne mich in dieser Wirrnis von verschlungenen Wegen so wenig aus«, bemerkte Miao Yü vor der Tür lächelnd, mit einem Seitenblick zu Pao Yü. Er las stumme Aufforderung in ihrem Blick. »Ich werde Euch führen«, erbot er sich geschwind. »Oh, zu gütig, dann geht, bitte, voran!«
Und die schöne Heilige ließ es sich gern gefallen, daß der Fürstensproß,
das Kind aus der Welt des roten Staubes, sie auf verschlungenen Pfaden zu ihrer
Einsiedclkiause zurückbrachte. In dieser Nacht hatte sie einen schweren Kampf
mit den Dämonen der Anfechtung zu bestehen. Nachdem sie ihre frugale Abendmahlzeit
eingenommen, sich vor dem Buddhabildnis verneigt, Weihrauch gebrannt, ihr Tagespensum
frommer Sutrassprüche heruntergebetet und mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem
runden Andachtspolster niedergelassen hatte, war sie mehrere Stunden vergeblich
bemüht, durch angestrengte Versenkung alle weltlichen frivolen Gedanken zu bannen
und die vorschriftsmäßige gottgefällige innere Ruhe zu gewinnen. Mitten in der
Nacht scheuchte sie das Geräusch einer polternden Dachschindel von
ihrem Andachtspolster herab auf die Veranda hinaus. Wie lau die Nacht war! Wie
schon der Mond schien! Wasserkaskaden gleich rieselten seine Strahlen durch
eine dünne Schicht vorgelagerten Gewölks. Das Gepolter von vorhin rührte von
einem Katzenpärchen her, das auf dem Dach rumorte und sich wechselseitig verliebte
Weisen vorjaulte. Wie sie die Kreatur beneidete!
So verlassen und einsam kam sie sich vor! Immer wieder kamen ihr die Honigworte
in den Sinn, die Pao Yü, das Kind des roten Staubes, heute an sie verschwendet
hatte. Geraume Weile stand sie noch, an die Balustrade gelehnt und in die Mondnacht
hinausträumend, ehe sie seufzend von neuem ihr Polster der Versenkung aufsuchte.
Mit ihrer Ruhe war es vorbei. In der zweiten Nachthälfte löste sich ihr Geist
aus seiner heiligen Haft und schwang sich in verbotene Regionen weltlichen Geschehens.
Die Dämonen der Anfechtung fuhren in ihren Leib und gaukelten ihr wüste Traumbilder
vor. Erst waren es hochgeborene und hochgemute Jünglinge, die um sie freiten
und die sie stolz verschmähte; Heiratsmaklerinnen rissen sich um sie und versuchten,
sie in die Brautsänfte zu zerren, zuletzt sah sie sich als Beute von Räubern,
die sie verschleppen und vergewaltigen wollten. In Schweiß gebadet, Schaum vor
dem Mund, mit gespreizten Händen und stieren Augen erwachte sie aus ihrer Ekstase.
Tagelang lag sie dann im Dämmerzustand, ehe sie dank reichlich genossener Medizinen,
die ihr der Arzt ›zur Dämpfung des Feuers im Blut‹ verordnete, genesen war.
- Tsao Hsüe Kin, Kao O: Der Traum der roten Kammer. Frankfurt
am Main 1995 (zuerst 1791)
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