Dachkammer  Drusille zündete die Kerze an, die ein sehr schmutziges, fensterloses Dachkämmerchen erhellte. Dicht unter der Decke hockte auf einer Stange ein ungewöhnlich schönes weibliches Wesen und starrte mit geblendeten Augen auf das Licht. Ihr weißer, nackter Körper war mit Federn geschmückt, die auf den Schultern und rings um die Brüste wuchsen. Ihre weißen Arme waren weder Flügel noch Arme. Die weiße Masse ihres Haars floss um ihr Gesicht herab, dessen Fleisch wie Marmor war.

»Was bringst du mir zu essen?«, fragte sie und hüpfte auf ihrer Vogelstange umher.

Als Drusille die Bewegung des Geschöpfs bemerkte, schlug sie die Tür hinter sich zu. Aber Juniper hatte nur Augen für den Honig, den sie begierig anstarrte.

»Das muss mindestens zehn Tage vorhalten«, sagte Drusille.

Juniper aß eine Weile, ohne zu antworten.

»Zu trinken«, forderte sie schließlich.

Und Drusille hielt ihr ein Glas Wasser hin, doch Juniper schüttelte den Kopf.

»Heute nicht, ich brauche Roten...«

Drusille lachte:

»Kommt nicht in Frage! Das letzte Mal, als ich dir Roten gegeben habe, hast du mich gebissen. Das reizt dich zu sehr. Wasser ist sehr gut für den Durst.«

»Roten«, beharrte Juniper mit tonloser Stimme, »sonst schreie ich.«

Mit einem raschen Handgriff zog Drusille ein Messer zwischen ihren Brüsten hervor. Sie fuchtelte damit vor der Kehle ihrer Schwester herum, die mit heiseren Schreien auf ihrer Stange herumsprang. Es waren die Schreie eines Pfaus.

Ein Weilchen später sagte Juniper mit tränenerstickter Stimme:

»Ich will dir nichts Böses, ich möchte nur ein ganz kleines Gläschen, mehr nicht. Ich bin so durstig, so durstig. Liebe Drusille, ich möchte nur ein einziges Tröpfchen ... und danach fünf Minuten lang den schönen Neumond betrachten ...« - (wind)

Dachkammer (2)  Der Raum war so klein, daß es eben noch möglich war, seitwärts zum Bett vorzudringen, als hätte ein zum Grabe Verdammter beschlossen, sich wenigstens hier keinen Zwang aufzuerlegen.

Ein Stapel medizinischer Bücher, neben Wälzern verschiedenster Arten, reichte beinah bis zur Decke, wasserfleckig, staubbedeckt; darüber ein kleines vergittertes Fenster, die einzige Lüftung. Auf einer Kommode aus Ahorn, offenbar nicht europäischer Herkunft, lagen ein paar verrostete Geburtszangen, ein verrostetes Skalpell, ein paar andere seltsame Instrumente, deren Zweck ihr rätselhaft war, ein Katheter, einige zwanzig zumeist leere Parfümflaschen, Pomaden, Cremes, Lippenstifte, Puderdosen, Puderquasten. Die Schubladen dieser chiffonière waren halb geöffnet, und Über die Ränder quollen Spitzen, Bänder, Damenstrümpfe, Damenwäsche und ein Bruchband, das aussah, als habe es dem gesamten Weibertand Notzucht angetan. Ein Abfalleimer stand am Kopfende des Bettes, bis zum Rand mit widerlichstem Unrat angefüllt. Der Raum hatte etwas erschreckend Entwürdigendes, ähnlich einem Zimmer im Bordell, wo selbst den Unschuldigsten das Gefühl überkommt, Mitschuldiger gewesen zu sein. Dennoch hatte er auch et­was Muskulös-Männliches an sich, war ein Mittelding zwischen einem chambre à coucher und dem Trainingsring eines Boxers. Ein Fluidum der Feindseligkeit herrscht in einem Raum, den eine Frau nie betreten hat. Jeder Gegen­stand bekämpft die eigene Fessel, und über allem liegt metallisches Aroma, wie von Schmiedeeisen auf dem Amboß.

Auf schmalem, eisernem Bett, zwischen groben, dreckigen Leinentüchern lag der Doktor, in einem Damennachthemd aus Flanell.

Sein Kopf mit den übergroßen, schwarzen Augen, den vollen Wangen, dem unrasierten, gewehrstahlfarbenen Kinn, war vom goldenen Halbrund einer Perücke gerahmt. Lange Hängelocken berührten die Schultern, fielen locker auf das Kissen und zeigten dort die schattige Seite der Spirale; Schminke war dick aufgetragen, die Wimpern waren geschwärzt. Nora durchfuhr der Gedanke: ›Mein Gott, Kinder wissen etwas, was sie nicht sagen können. Sie mögen Rotkäppchen und den Wolf im Bett!‹ Aber dieser Gedanke, nicht mehr als das Gefühl eines Gedankens, dauerte nur die Sekunde, während der sie die Tür öffnete; schon in der nächsten hatte der Doktor sich die Perücke vom Kopf gerissen, er sank im Bett zurück und zog sich die Decken weit über die Brust. - Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1936)

Dachkammer (3)  Vor weniger Jahren als Murphy sich eingestehen wollte, als er noch in der ersten Blüte seiner Jugend war, hatte er eine Dachkammer in Hannover bewohnt, allerdings nicht lange, aber doch lange genug, um alle ihre Vorteile kennenzulernen. Seitdem hatte er weit und breit nach einer mindestens halb so guten Dachkammer gesucht. Vergebens. Was in Großbritannien und Irland als Dachkammer galt, war in Wirklichkeit nichts anderes als ein Söller. Ein Söller! Wie war so eine Begriffsverwirrung möglich? Ein Keller war noch besser als ein Söller. Ein Söller!

Aber die Dachkammer, die er jetzt sah, war kein Söller, auch keine Mansarde, sondern eine echte Dachkammer, nicht halb, sondern doppelt so gut wie die in Hannover, weil sie nämlich halb so groß war. Decke und Außenwand waren eins, eine prachtvolle, im Goldenen Winkel der weitesten Wurfbahn geneigte weiße Woge, die von einem kleinen Dachfenster aus Milchglas durchbrochen wurde, das sich tagsüber ideal gegen die Sonne schließen und nachts für die Sterne öffnen ließ. Das Bett war so niedrig und seine Federn so erschlafft, daß seine Mitte, sogar unbelastet, den Boden berührte; es stand mit der Längsseite im Spalt zwischen Fußboden und Decke, so daß es Murphy erspart blieb, es da hineinzurücken. Die Dachkammer enthielt außer dem Bett noch einen Stuhl und eine Kommode ohne Schubladen, Eine riesige Kerze, die mit ihrem eigenen Talg am Boden klebte, richtete ihre Schnuppe am Kopfende des Betts himmelwärts. Dieser einzige Beleuchtungskörper war mehr als genug für Murphy, der ein strenger Nicht-Leser war. Er protestierte jedoch heftig dagegen, daß kein Heizkörper da war.

«Ich brauche Feuer», sagte er zu Ticklepenny, «ich kann ohne Feuer nicht leben.»

Ticklepenny bedauerte, er hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß Murphy ein Feuer in der Dachkammer zugebilligt würde.  - (mur)

 

Kammer

 

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