Chiarchiaro    Morgenlicht überflutete das Land. Es schien aus dem zarten Grün der Saaten aufzusteigen, aus den Felsen und taufeuchten Bäumen, und kaum merklich zum blinden Himmel emporzuschweben. Das Chiarchiaro von Gràmoli, ein absurder Fremdkörper in der grünenden Ebene, sah aus wie ein riesiger Schwamm mit schwarzen Löchern, der sich mit dem zunehmenden Licht über dem Land vollsaugte. Der Hauptmann Bellodi war an dem Punkt, wo Müdigkeit und Schlaftrunkenheit, als verzehrten sie sich selbst, zu einem hellsichtigen Fieber werden, gleichsam zu einem Spiegel glühender Visionen. (Und ebenso verhält es sich mit dem Hunger, der an einem gewissen Punkt, bei einer gewissen Stärke, sich in eine klarsichtige Leere verwandelt, die vor dem Anblick jeglicher Speise zurückscheut.) Der Hauptmann dachte: Gott hat diesen Schwamm hierher geworfen. Denn der Anblick des Chiarchiaro schien ihm dem Kampf und der Niederlage Gottes im menschlichen Herzen zu entsprechen. Halb im Scherz, und weil er wußte, daß den Hauptmann gewisse volkstümliche Redewendungen interessierten, sagte der Unteroffizier:

E lu cuccu ci dissi a li cuccuotti
a lu chiarchiaru nni vidiemmu tutti.

Tatsächlich   erregte   das   sofort   die   Neugierde   des Hauptmanns, der ihn nach der Bedeutung des Sprichwortes fragte.

Der Unteroffizier übersetzte: «Und der Kuckuck sagte zu seinen Jungen: Im Chiarchiaro treffen wir uns alle wieder.» Und er fuhr fort, das solle vielleicht heißen, daß der Tod uns alle wieder vereinigt. Denn das Chiarchiaro gelte, wer weiß warum, als ein Bild des Todes. Der Hauptmann verstand sehr wohl warum. Und wie in einer Fiebervision sah er eine Versammlung zahlloser Nachtvögel im Chiarchiaro vor sich, die im trüben Morgenlicht blindlings mit den Flügeln schlugen.  - Leonardo Sciascia, Der Tag der Eule. Zürich 1991

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