Charme, männlicher    Marcel-Andre-Henri-Felix Petiot war ein großer Geschäftsmann.

Seine legendäre Karriere begann, als er sechzehn war -und auf typische Weise: Er wurde beim Briefkastenplündern erwischt. Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Petiot war ein Waisenkind, das bei einer Tante, einer ehrbaren Frau, aufwuchs. Die Briefkastenaffäre wurde nicht groß herausgekehrt. Nach dem Gymnasium studierte er Medizin, bis er 1916 eingezogen wurde.

Seine nächste kriminelle Betätigung war schon lukrativer. Er handelte mit Narkotika, die er aus Feldlazaretten gestohlen hatte. Als er schließlich gefaßt wurde, attestierte man ihm, da er eine Verwundung am Fuß davongetragen hatte, eine Kriegsneurose und gewährte ihm einen ehrenhaften Abschied krankheitshalber. Petiot war ein gutaussehender, freundlicher, umgänglicher Bursche.

Nach seiner Entlassung aus der Armee nahm er sein Medizinstudium wieder auf und absolvierte, nach einem Praktikum in einer Irrenanstalt, sein Examen. Im Jahre 1921 ließ er sich in Villeneuve-sur-Yonne als praktischer Arzt nieder.

Er hatte sofort Erfolg, zumindest was den Aufbau seiner Praxis anging. Später kamen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten hinzu. Recht bald wurde beispielsweise das attraktive Mädchen, das er als seine Haushälterin angestellt hatte, schwanger und verschwand spurlos von der Bildfläche. Und im Jahre 1930 wurde eine Frau, die am Ort ein Geschäft besaß, von jemand ermordet, der auch einen großen Geldbetrag aus der Kasse mitnahm. Ein

Mann, der unvorsichtigerweise Andeutungen machte, daß Dr. Petiot die Finger im Spiel gehabt haben könnte, starb ebenfalls. Dr. Petiot, der den Betreffenden einmal wegen Rheuma behandelt hatte und jetzt auch die Autopsie vornahm, konnte seine Mitbürger beruhigen - der Mann war eines natürlichen Todes gestorben.

Inzwischen war Dr. Petiot allerdings schon in einer starken Position. Man hatte ihn in den Stadtrat gewählt und mittlerweile zum Bürgermeister gemacht, er war verheiratet, hatte Kinder und galt allenthalben als Respektsperson. Die Verdächtigungen seiner politischen Gegner waren absurd.

1932 unterlief ihm jedoch ein Fehler. Es hatte eine Reihe von Diebstählen an Gemeindeeigentum gegeben. Die Polizei schaltete sich ein. Bürgermeister Petiot wurde auf frischer Tat ertappt und wegen Diebstahls zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe verlegte er seine Praxis nach Paris.

Das nächste Mal hören wir von ihm im Jahre 1936, als er wegen Ladendiebstahls verhaftet wurde. Sem gutes Aussehen und sein Charme zeigten auch diesmal Wirkung. Das Gericht empfahl ihm, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Er fuhr in seine Praxis zurück.

Der Zweite Weltkrieg brach aus. Dr. Petiot blieb während der deutschen Besetzung in Paris und war 1942 wieder bei seinen alten Tricks angelangt. Er wurde des Rauschgifthandels verdächtigt, doch zu einer Anklage kam es nicht, die Zeugen verschwanden einfach, für gewöhnlich nach einem Termin bei Dr. Petiot. Inzwischen befaßte er sich mit Wichtigerem.

1941 hatte er sich in der Rue Le Sueur, einer vornehmen Straße in der Nähe des Etoile, ein Haus gekauft und eine Firma beauftragt, gewisse bauliche Veränderungen vorzunehmen. Hauptsächlich ging es darum, einen fensterlosen und schalldichten Raum einzurichten, in dem er, eigenen Angaben zufolge, wissenschaftliche Versuche durchführen wollte, und zwar mit elektrischen Apparaten, die die Nachbarn vielleicht stören würden. In die Wand des Raums sollte eine kleine Glasscheibe zum Hindurchguk-ken eingebaut werden.

Zur gleichen Zeit hatte er die entsprechenden Kreise wissen lassen, daß es für diejenigen, die aus rassischen oder politischen Gründen aus dem besetzten Frankreich nach Spanien oder England oder Amerika gehen wollten, empfehlenswert sei, den Dr. Petiot zu konsultieren.

Dann lehnte er sich zurück und wartete.

Sie kamen. Es funktionierte anscheinend ganz einfach. Bei dem ersten Termin bekam der Reisende in spe seine Anweisungen. Er solle sich zu der und der Uhrzeit wieder einfinden, mit möglichst wenig Gepäck, aber beliebig vielen Wertsachen, und zweitausend us-Dollar. Er dürfe niemand sagen, wohin und wann er führe. Beim zweiten Termin wurde die Summe übergeben und der Reisende zum »Geheimausgang« gebracht. Dieser führte zum schalldichten Raum.

Hinsichtlich der Methode, wie Dr. Petiot seine Opfer umgebracht hat, gibt es zwei Theorien. Die eine besagt, er habe sie für die Reise »geimpft«, die andere, er habe sie in dem betreffenden Raum vergast. Von denjenigen, die den Raum betraten, ist niemand lebend herausgekommen. Wir werden es nie erfahren. Der Doktor arbeitete sehr effizient, so sehr, daß er sogar von der Gestapo verhört wurde, weil er unter dem Verdacht stand, fluchtwilligen Personen geholfen zu haben.

Erst im März 1944 wendete sich für ihn das Blatt.

Die Nachbarn in der Rue Le Sueur beschwerten sich bei der Polizei, der Schornstein des Petiotschen Hauses verbreite einen üblen Gestank, er scheine zu brennen. Die Polizei ermittelte und rief die Feuerwehr. Dr. Petiot wurde aus einem nahegelegenen Haus herbeigerufen. Bei seinem Eintreffen waren die Feuerwehrleute schon eingebrochen und hatten im Ofen eine brennende Leiche gefunden. Im Keller hatten sie auch die Überreste von sechsundzwanzig anderen Frauen und Männern entdeckt.

Der Doktor behielt die Nerven. Er nahm den Polizeiof-fizier beiseite und erklärte ihm ungehalten, daß das Haus von der Resistance als Exekutionsort benutzt werde. Durch ihr unbesonnenes Eingreifen habe die Polizei das Leben unzähliger Patrioten aufs Spiel gesetzt. Heimlich und kleinlaut zogen sich die Ordnungshüter zurück. Erst ein paar Stunden später kamen ihnen Bedenken. Doch da war der Doktor schon längst über alle Berge.

Die Polizei brauchte sechs Monate, um ihn zu schnappen. Bei seinem Prozeß behauptete er, insgesamt dreiund-sechzig Personen umgebracht zu haben, es seien aber alles Deutsche oder Kollaborateure gewesen. Es gab keinen Grund, seine Berechnungen anzuzweifeln. Sein Charme indes wirkte nicht mehr, und niemand glaubte ihm den Rest seiner Geschichte.

Die Gerichtspsychiater, die ihn untersuchten, stellten keine Anzeichen von Geisteskrankheit fest. Sein Problem, sagten sie, bestehe darin, daß er »in moralischer Hinsicht zurückgeblieben« sei.   - (beg)

Charme Männlichkeit

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