harme  »Wo du hingehst, da soll auch ich hingehen, steht in der Bibel. Und weil ich eine Pfarrerstochter bin, nehme ich es mit solchen Geboten ernst«, pflegte sie anzumerken; denn sie war eine gebildete und elegante Dame.

Im neuen dunkelgrünen Wanderdreß sah sie wie die Gefährtin eines Partisanenführers aus, Titos zum Beispiel. Sie war tapfer im Rechthaben und belegte alles, was ihr unterkam, mit Wörtern. Weshalb Eugen Egbert bewunderte und seine neue Frau mit »Gnädigste« anredete.

»Das fängt doch schon am Morgen an...«, war's dem einmal mit beklommenem Unterton herausgerutscht. Und er hatte rasch hinzugefügt: »Das sind doch alles Flachsereien.« Weshalb Eugen annahm, die Dame müsse für Egbert die Richtige sein. Sie schien sich anzustrengen, Egbert zu behalten, nachdem sie ihres ersten Ehemannes verlustig gegangen war.

Sie hatte eine Schwäche für so etwas wie ›Bourgeoisiev, der sie entstammte. Dies konnte sich sehen lassen, weil es überraschend war, denn heutzutage wurde doch das Bourgeoise verachtet, was Egberts neue Frau zu wissen schien. Und sie erzählte, wie sie der Filmtitel »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« ins Kino gelockt hatte und wie entsetzt sie gewesen war, als auf der Eeinwand Blut unter einer weißen Hoteltür herausgelaufen war. - »Ein entsetzlicher Film! Nach dem Titel habe ich mir etwas Schmeichelndes vorgestellt.« Und sie wiederholte: »Der diskrete Charme der Bourgeoisie!«  - Hermann Lenz, Herbstlicht. Frankfurt am Main 2000

Charme (2) Ich wußte von seinem Leben, soviel davon bekannt war. Er war heiß geliebt worden, mehrmals; und es hatten sich Dramen abgespielt, in die sein Name verwickelt war. Man sprach von ihm als von einem sehr verführerischen, fast unwiderstehlichen Mann. Als ich die Frauen, die am meisten sein Lob sangen, ausfragte, um zu ergründen, woher ihm diese Macht kam, antworteten sie stets, nachdem sie eine Weile überlegt hatten: »Ich weiß nicht... das ist eben Charme.«

Schön, nein, schön war er nicht. Er hatte auch nichts von der Eleganz, die wir den Eroberern weiblicher Herzen zuschreiben. Interessiert fragte ich mich, worin seine Verführungskraft sich verberge. Im Geist? ... Nie hatte ich gehört, daß man seine Aussprüche zitiert noch etwa seine Intelligenz gerühmt hätte ... Im Blick? ... Vielleicht ... Oder in der Stimme? ... Die Stimme mancher Menschen hat einen bezwingenden sinnlichen Zauber, verlockt wie eine erlesene Speise. Es gelüstet einen, sie zu hören, und der Klang ihrer Rede geht uns ein wie eine Köstlichkeit.

Ein Freund ging vorüber. »Kennst du Monsieur Milial?« fragte ich. »Ja.« »Dann stell uns doch einander vor.«

Eine Minute später tauschten wir einen Händedruck und plauderten zwischen zwei Türen. Was er sagte, war zutreffend, angenehm zu hören, ohne irgend etwas Überragendes zu enthalten. Die Stimme war tatsächlich schön, sanft, einschmeichelnd, musikalisch; aber ich hatte schon betörendere, hinreißendere gehört. Man lauschte ihm gern, als sähe man eine hübsche Quelle fließen. Keine Schärfung des Denkens war notwendig, um ihm zu folgen, kein Hintersinn erregte die Neugier, keine Erwartung hielt das Interesse gespannt. Seine Rede war eher erholsam und erregte in uns kein lebhaftes Bedürfnis zu antworten, weder zu widersprechen noch begeistert zuzustimmen.

Ihm eine Erwiderung zu geben fiel übrigens ebenso leicht, wie ihm zu lauschen. Die Antwort kam einem, wenn er zu reden aufgehört hatte, wie von selbst auf die Lippen, und die Worte fielen ihm zu, als ließe das, was er gesagt hatte, sie automatisch aus dem Mund kommen.

Bald stellte ich eine Überlegung an. Ich kannte ihn seit einer Viertelstunde, und mir war, als sei er einer meiner ganz alten Bekannten und mir sei alles an ihm lange vertraut: sein Gesicht, seine Gesten, seine Stimme, sein Denken.

Unversehens, nach wenigen Minuten Plauderei, schien er sich in meiner Intimität eingerichtet zu haben. Alle Türen zwischen uns waren geöffnet, und ich hätte ihm, hätte er es gewollt, vielleicht Vertrauliches über mich mitgeteilt, wie man es gewöhnlich nur langjährigen Gefährten ausliefert.

Darin lag unstreitig ein Rätsel. Die Barrieren, die sonst zwischen den Menschen bestehen und die nur die Zeit eine nach der anderen abbaut, wenn sie durch Sympathie, gleiche Vorlieben, gleiche geistige Kultur und ständige Beziehungen sich allmählich verringert haben - zwischen ihm und mir schien es sie nicht zu geben, und offenbar auch nicht zwischen ihm und all den Männern und Frauen, die der Zufall mit ihm zusammenführte.  - (nov)

Zauber Liebenswürdigkeit Anziehungskraft
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