harlottenburg   Zum Beispiel eine Matinee im Februar 1919 in Berlin-Charlottenburg, bei der wegen des Andrangs viele, die kamen, wieder gehen mußten. Alsbald machten wir auf Plakaten bekannt, die Matinee werde am Sonntag darauf zu doppelten Eintrittspreisen wiederholt. Die Polizei mußte abermals den Verkehr vor dem Theater regulieren. Und wir drinnen erklärten - statt anzufangen -, es wundere uns nicht, daß es so viele dumme Leute gibt, die doppelten Eintritt bezahlen. Wir wollten sie uns nur mal aus der Nähe ansehen. Jetzt könnten sie ruhig wieder nach Hause gehen. Erst als wir ziemlich beleidigend wurden, vermutete das Publikum, daß das unser Ernst war. Die Reaktionen waren verschieden. Manche gaben uns recht, andere waren wütend. So kam es zu Schlägereien, aber nur zwischen den Besuchern. Wir verfolgten den Kampf von der Bühne herab ruhig, so als gehörte er zum Programm.

Als sich Stimmen meldeten, es könnte sich doch jeder wie wir aufs Podium stellen, stimmten wir den Leuten sofort zu und forderten sie auf, es zu tun. Nach einigem Hin und Her meldeten sich etwa fünfzehn junge Leute. Wir zogen uns ins Künstlerzimmer zurück. Und nun standen sie auf der Bühne und wußten nicht, was sie machen sollten. Sie waren einfach verlegen. Gelächter kam auf. Je länger sie herumstanden und berieten, um so unruhiger wurde es im Parkett.

Schließlich verlangte man allgemein, die Original-Dadaisten sollten weitermachen.  - Wieland Herzfelde, Sinn und Form 6/1971, nach: Der Malik-Verlag 1916-1947. Hg. Jo Hauberg u.a. Kiel 1986

Charlottenburg (2) An diesem Nachmittag traf Rottenkopf Nagel als er über die Kreuzung Leibniz Ecke Kantstraße ging. Es regnete nun schon seit Tagen und auf den Gehsteigen sproß Gras. Kühe weideten auf allen Wegen und Süßwasserfische kamen ihnen entgegen. Ein bärtiger Mann, der paarweise allerlei Vieh sowie seine ganze Familie bei sich hatte, ging hinunter zur Küste, wo er ein riesiges Boot gebaut hatte. Alle Straßen waren von Kindern gesäumt, die Fähnchen schwenkten. Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da kam ihnen der Staatsbesucher mit seiner Frau entgegen. Billinger versuchte, zudringlich zu ihr zu gelangen, um ihr näher treten zu können, wurde aber von einer Hundertschaft Geheimpolizisten zurückgerissen. Mehr Erfolg hatte eine alte Frau, die an einer Angelrute in einem durchsichtigen Plastikbeutel eine Plastikpuppe befestigt hatte, die die Gesichtszüge der Gattin des Staatsbesuchers auf-wies. Die Angelrute ragte weit in die Fahrbahn hinein. Nagel meditierte über die Veränderungen, die von Kriegen ausgehen. Man kann wirklich nicht sagen, daß es wenige Veränderungen wären, aber warum haben wir Überlebenden immer so wenig davon.  - (baer)
 
 

Berlin

 

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