Buch im Buch   «Worum geht es im Grunde?»

«Hauptsächlich um die Urheberschaft des Buches. Wer es schrieb und wie es geschrieben wurde.»

«Gibt es da ein Problem? »

«Natürlich nicht. Aber ich meine das Buch in dem Buch, das Cervantes schrieb, das Buch, das er zu schreiben sich vorstellte.»

«Wie das?»

«Es ist ganz einfach. Cervantes gibt sich, wie Sie sich erinnern werden, die größte Mühe, den Leser davon zu überzeugen, daß er nicht der Autor ist. Das Buch, sagt er, wurde von Cid Hamete Benengeli in arabischer Sprache geschrieben. Cervantes schildert, wie er das Manuskript eines Tages zufällig auf dem Markt von Toledo entdeckt. Er beauftragt jemanden, es für ihn ins Spanische zu übersetzen, und stellt danach sich selbst nur noch als den Herausgeber der Übersetzung dar. Tatsächlich kann er nicht einmal für die Richtigkeit der Übersetzung bürgen.»

«Und dennoch», fügte Quinn hinzu, «sagt er dann, daß die Fassung des Cid Hamete Benengeli die einzig wahre Version der Geschichte Don Quijotes ist. Alle anderen Versionen sind von Betrügern verfaßte Fälschungen. Er besteht mit allem Nachdruck darauf, daß alles, was im Buch steht, wirklich in der Welt geschehen ist.»

-Richtig. Denn schließlich prangert er mit dem Buch die Gefahren der Verstellung und Vorspiegelung an. Er konnte, um das zu tun, nicht gut ein Werk der Phantasie vorlegen, nicht wahr? Er mußte behaupten, daß es wirklich sei.»

«Ich habe trotzdem immer den Verdacht gehabt, daß Cervantes selbst diese alten Romane verschlang. Man kann etwas nicht so heftig hassen, ohne daß ein Teil von einem es auch liebt. In einem gewissen Sinne war Don Quijote nur sein Double.»

«Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wie kann man einen Schriftsteller besser porträtieren, als daß man einen Mann zeigt, der von Büchern verhext ist.»

«Genau.»

«Jedenfalls, da das Buch die Wirklichkeit darstellen soll, muß die Geschichte von jemandem geschrieben werden, der Augenzeuge der darin geschilderten Ereignisse war. Aber Cid Hamete, der anerkannte Autor, tritt nie in Erscheinung. Nicht ein einziges Mal behauptet er, bei den Geschehnissen dabeigewesen zu sein. Meine Frage lautet daher: Wer ist Cid Hamete Benengeli?»

«Ich sehe, worauf Sie hinauswollen.»

«Die Theorie, die ich in meinem Essay aufstelle, lautet, daß er in Wirklichkeit eine Kombination von vier verschiedenen Personen darstellt. Der Augenzeuge ist natürlich Sancho Pansa. Es gibt keinen anderen Kandidaten, denn er ist der einzige, der Don Quijote bei allen seinen Abenteuern begleitet. Aber Sancho kann weder lesen noch schreiben. Daher kann er nicht der Autor sein. Andererseits wissen wir, daß Sancho eine große Sprachbegabung besitzt. Trotz seiner albernen Wortverdrehungen kann er jede andere Figur des Romans in Grund und Boden reden. Es erscheint mir durchaus möglich, daß er die Geschichte jemandem diktierte - nämlich dem Barbier und dem Pfarrer, den guten Freunden Don Quijotes. Sie brachten die Geschichte in die richtige literarische Form - in spanischer Sprache - und übergaben das Manuskript Simon Carasco, dem Junggesellen aus Salamanca, der es ins Arabische übersetzte. Cervantes fand die Übersetzung, ließ sie wieder ins Spanische übertragen und veröffentlichte dann das Buch Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von La Mancha.»

«Aber warum sollten sich Sancho und die anderen solche Mühe machen?»

«Uni Don Quijote von seinem Wahn zu heilen. Sie wollen ihren Freund retten. Erinnern Sie sich, am Beginn verbrennen sie seine Ritterromane, aber das hat keine Wirkung. Der Ritter von der traurigen Gestalt läßt nicht von seiner Besessenheit ab. Dann, früher oder später, ziehen sie alle aus und suchen ihn in verschiedenen Verkleidungen - als Dame in Not, als der Spiegelritter, als der Ritter vom Weißen Mond-, um Don Quijote wieder nach Hause zu locken. Arn Ende gelingt es ihnen ja auch. Das Buch war nur eine ihrer Listen. Es sollte Don Quijotes Wahnsinn einen Spiegel vorhalten, jede seiner absurden und lächerlichen Selbsttäuschungen aufzeichnen, so daß er schließlich, wenn er das Buch las, seine Irrtümer erkennen mußte.»

«Das gefällt mir.»

«Ja. Aber es gibt noch eine letzte überraschende Wendung. Don Quijote war meiner Meinung nach nicht wirklich wahnsinnig. Er tat nur so. In Wirklichkeit hat er selbst das Ganze inszeniert. Erinnern Sie sich: Im ganzen Buch beschäftigt Don Quijote die Frage der Nachwelt. Immer wieder fragt er sich, wie genau sein Chronist seine Abenteuer aufzeichnen wird. Das setzt ein Wissen seinerseits voraus. Er weiß schon von vornherein, daß dieser Chronist existiert. Und wer anders könnte das sein als Sancho Pansa, der treue Knappe, den Don Quijote zu genau diesem Zweck ausgesucht hat? Ebenso wählt er die drei anderen aus, damit sie die ihnen zugedachten Rollen spielten. Don Quijote organisierte das Benengeli-Quartett. Und er suchte nicht nur die Autoren aus; wahrscheinlich übersetzte er selbst das arabische Manuskript wieder ins Spanische. Wir sollten ihm das ohne weiteres zutrauen. Denn für einen Mann, der so geschickt war in der Kunst der Verstellung, kann es nicht schwer gewesen sein, seine Haut zu schwärzen und Maurenkleidung anzulegen. Ich stelle mir gern die Szene auf dem Marktplatz von Toledo vor. Cervantes beauftragt Don Quijote, die Geschichte von Don Quijote zu entziffern. Darin steckt große Schönheit.»

«Aber Sie haben noch nicht erklärt, warum ein Mann wie Don Quijote sein geruhsames Leben aufgeben sollte, um einen so komplizierten Schwindel zu inszenieren.»

«Das ist das Interessanteste von allem. Meiner Meinung nach stellte Don Quijote ein Experiment an. Er wollte die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen auf die Probe stellen. Wäre es möglich, fragte er sich, vor die Welt hinzutreten und mit tiefster Überzeugung Lügen und Unsinn auszuspucken? Zu sagen, daß Windmühlen Riesen seien, ein Barbierbecken für einen Helm auszugeben und Puppen für wirkliche Menschen? Wäre es möglich, andere dazu zu überreden, ihm zuzustimmen, selbst wenn sie ihm nicht glaubten? Mit anderen Worten, in welchem Grade würden die Menschen Blasphemien hinnehmen, solange sie ihnen Unterhaltung verschafften? Die Antwort liegt auf der Hand, nicht wahr? In jedem beliebigen Grade. Der Beweis ist, daß wir das Buch noch immer lesen. Es ist für uns immer noch unterhaltsam. Und das ist schließlich alles, was man von einem Buch verlangt - daß es einen unterhält.»   - Paul Auster, Die Stadt aus Glas. in: P. A., Die New-York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg 1991

Buch Verschachtelung

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

Verwandte Begriffe
Synonyme