rüten
Ich wünsche mir für meine mir noch verbleibende Lebenszeit, sie
mit schreiben, lesen, schauen und schweigen verbringen zu können : der Omnipotenz
des Ekels, der Leere, der Verzweiflung,
der Angst zu entgehen. Also nicht so sehr schreiben
als brüten. Zu lesen zu fleiß. Damit ich endlich imstande bin, die Titel jener
Bücher im Gedächtnis zu behalten, mit welchen ich mich gerade beschäftige, um
nicht zu wiederholten Malen in die unangenehme Situation zu geraten, auf die
Frage, was ich gerade lese, keine Antwort zu wissen. Nämlich das Brüten ist
eine Kunst frei von Gewicht - - Friederike Mayröcker,
Magische Blätter II. Frankfurt am Main 1987 (es 1421)
Brüten (2)
Brüten
(3) Zweifellos ist es noch immer tief unten im Brunnen;
ich weiß, irgend etwas stimmte nicht mit dem Sonnenlicht, das über dem stinkenden
Wasser spielte. Die Bauern sagen, der Pesthauch kriecht jedes Jahr um einen
Zoll weiter, also findet vielleicht auch jetzt noch eine Art Wachstum oder Ernährung
statt. Aber was für eine dämonische Macht dort auch brütet, sie muß an irgend
etwas gefesselt sein, sonst würde sie sich schneller ausbreiten. Ist sie an
die Wurzeln der Bäume geheftet, die sich mit ihren Ästen in die Luft krallen?
Eines der in Arkham umlaufenden Gerüchte betrifft knorrige Eichen,
die in der Nacht leuchten und sich bewegen, wie sie es eigentlich nicht tun
dürften. - H. P. Lovecraft, Die
Farben aus dem All.
In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)
Brüten (4) Aber nachgedacht hat er ja nicht. Und beim Brüten sind diese Fragen vielleicht auch alle vorgekommen, aber natürlich furchtbares Durcheinander. Und gleichzeitig hat er vielleicht über seinen linken Schuh gebrütet, wieso der bei ihm immer an derselben Stelle ein Loch bekommt, links bei der kleinen Zehe. Bei den neuen Schuhen ist es auch schon wieder soweit gewesen.
Weil das ist ja der Vorteil beim Brüten gegenüber dem Denken. Daß du über alles gleichzeitig nachbrüten kannst. Die Geräusche, die aus der Küche gekommen sind, hat er genauso mitgebrütet wie die Kalenderbilder an den Wänden. Weil beim Brüten kannst du es dir ja nicht aussuchen, über was du brütest. Das ist anders als zum Beispiel beim Denken, wo du es dir ein bißchen aussuchen kannst.
Du hast es beim Brüten nicht in der Hand, was herauskommt. Kann eine große Überraschung sein, ja was glaubst du. Auch wieder Unterschied zum Denken, wo du die Überraschung ein bißchen ausschalten kannst. Schon eine Überraschung möglich beim Denken, aber nicht, sagen wir, daß es dich umhaut.
Aber ich will jetzt nicht gegen das Denken reden, Weil beim Brüten kommt
meistens weniger als nichts heraus. Du brütest ein bißchen, dann schläfst du
ein. Das ist die einzige Überraschung, die du beim Brüten erlebst im Normalfall.
Du schreckst auf und denkst überrascht: Jetzt bin ich doch glatt eingeschlafen.
Und meistens brütet man nur, weil man zu faul zum Denken ist, das muß auch einmal
gesagt werden. - Wolf Haas, Der Knochenmann. Reinbek bei Hamburg
2014
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