Pruder, kleiner   Ganz plötzlich war ich so wütend, daß mir die Kehle wie zugeschnürt war — wegen mir und dem Traum, und wegen Maybelle und Sucker und jedem einzelnen Menschen, den ich kannte. Mir fielen all die Begegnungen ein, wo Maybelle mich gedemütigt hatte, und überhaupt alles Schlimme, was mir je zugestoßen war. Mir schien, als ob mich nie jemand gern haben würde, höchstens so eine Nulpe wie Sucker.

»Warum sind wir nicht mehr Kameraden wie früher? Warum...«

»Halt deine verdammte Klappe!« Ich stieß die Bettdecke zurück, stand auf und drehte das Licht an. Da saß er mitten im Bett, zwinkerte mit den Augen und hatte Angst.

In mir war etwas, gegen das konnte ich mich nicht wehren. Ich glaube, so rasend kann der Mensch nur einmal im Leben werden. Die Worte sprudelten aus mir heraus, ohne daß ich wußte, wie sie klingen würden. Erst hinterher konnte ich alles in vollem Licht sehen und mich an alles erinnern, was ich gesagt hatte.

»Warum wir keine Kameraden mehr sind? Weil du der dümmste Kerl bist, den ich jemals gesehen habe! Kein Mensch macht sich was aus dir! Und bloß, weil du mir manchmal leid getan hast und ich versucht habe, dich anständig zu behandeln, brauchst du dir nicht gleich einzubilden, daß ich auch nur so viel für eine doofe Nuß wie dich gebe!«

Wenn ich laut gesprochen oder ihn geschlagen hätte, war's nicht so schlimm gewesen. Aber die Worte kamen leise und so, als wäre ich ruhig. Suckers Mund stand halb offen, und er sah aus, als hätte er sich am Musikantenknochen gestoßen. Sein Gesicht war kreideweiß, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg, und eine Minute lang blieb sein Arm so, als müsse er etwas abwehren.

»Begreifst du denn rein gar nichts? Hast du überhaupt keine Ahnung von irgendwas? Warum besorgst du dir nicht ein Mädchen - statt mir nachzurennen? Was für 'ne Zimperliese willst du eigentlich noch werden?«

Ich wußte nicht, was ich noch alles sagen würde. Ich konnte mir nicht helfen und konnte nicht denken.

Sucker rührte sich nicht. Er hatte eine Schlafanzugjacke von mir an, und sein Hals schaute knochig und dünn heraus. Das Haar auf seiner Stirn war feucht.

»Warum lungerst du immer um mich rum? Merkst du's nicht, wenn du mir auf die Nerven gehst?«

Hinterher konnte ich mich an die Veränderung in Suckers Gesicht erinnern. Langsam verschwand der leere Ausdruck, und er machte den Mund zu. Seine Augen wurden schmale Schlitze, und er ballte die Fäuste. Noch nie hatte ich so einen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen. Es war, als würde er von Sekunde zu Sekunde älter. In seinen Augen stand ein harter Ausdruck, wie man ihn bei einem Kind gewöhnlich nicht sieht. Ein Schweißtropfen rollte ihm am Kinn herunter, und er merkte es nicht. Er saß einfach da, den Blick auf mich geheftet, und sprach nicht, und sein Gesicht war hart und zuckte nicht.   - Carson McCullers, Sucker. Nach (cmc)

 

Bruder

 

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