Briefgeheimnis   Es begab sich eines Tages, daß Pharao Weser-maat-Re (Ramses II.) zum Hofe des Palastes in Memphis ging und der Rat der Fürsten, der Generale und der Großen Ägyptens nach ihrem Range im Hofe standen. Man kam und meldete Seiner Majestät: »Da ist eine Mitteilung, die ein Fürst von Äthiopien macht durch einen versiegelten Brief auf seinem Leib.« Darüber wurde vor Pharao Meldung gemacht.

Der Fürst wurde in den Hof geführt, er brachte ihm eine Huldigung dar und sagte: »Ist irgend jemand da, der vor Pharao dieses Schreiben lesen kann, das ich nach Ägypten gebracht habe, ohne seine Siegel aufzubrechen, das heißt, der die Schrift in ihm liest, ohne ihn zu öffnen? Wenn sich zeigen sollte, daß es keinen guten Schreiber oder gelehrten Mann in Ägypten gibt, der imstande ist, ihn zu lesen, ohne ihn zu öffnen, dann werde ich die Schmach Ägyptens ins Land der Neger, meine Heimat, austragen.«

Sobald Pharao und seine Fürsten diese Worte hörten, wußten sie vor Verblüffung nicht, an welchem Ort der Erde sie sich befanden, und sagten: »Bei Ptah, dem großen Gott, Ist denn die Hand des besten Schreibers und gelehrtesten Mannes mächtig, Schriften zu lesen, von denen er nur die Außenseite sieht? Oder wer könnte meinen Brief lesen, ohne ihn zu öffnen?«

Da sagte Pharao: »Laßt Setom Chaemwese, meinen Sohn, zu mir rufen!« Man rief ihn und brachte ihn sofort herbei. Er verbeugte sich bis auf den Boden, er grüßte Pharao, erhob sich und stellte sich wieder auf die Füße, während er die Verehrungsformel für Pharao aussprach.

Dann sagte Pharao zu ihm: »Mein Sohn Setom, hast du die Worte gehört, die dieser Fürst von Äthiopien vor mir gesprochen hat: >Gibt es einen guten Schreiber und gelehrten Mann in Ägypten, der diesen Brief lesen kann, der in meiner Hand ist, ohne sein Siegel aufzubrechen, und der erkennen kann, was in ihm geschrieben steht, ohne ihn zu öffnen?««

Sobald Setom diese Worte hörte, wußte er nicht, an welchem Ort der Erde er sich befand, und sagte: »Mein großer Herr, wer wäre der, der eine Schrift lesen könnte, ohne sie zu öffnen? Indessen möge man mir zehn Tage Frist gewähren, damit ich sehe, was ich vermag, um zu verhindern, daß die Schmach Ägyptens ins Land der Neger, in die Heimat der Gummi-Fresser, ausgetragen werde.« Pharao sagte: »Sie seien meinem Sohn Setom gewährt!«

Für den Äthiopier wurden Aufenthaltsräume bereitgestellt, und man bereitete für ihn den Fraß nach äthiopischer Art. Pharao erhob sich vom Hofe mit überaus bekümmertem Herzen. Er legte sich nieder, ohne zu trinken oder zu essen.

Setom ging in seine Gemächer, ohne zu wissen, an welchem Ort der Erde er ging. Er hüllte sich von Kopf bis Fuß in seine Kleider und legte sich nieder, ohne zu wissen, an welchem Ort der Erde er sich befand.

Man unterrichtete Meh-usechet, seine Gattin, davon, und sie kam zu Setom. Sie steckte ihre Hand in seine Kleider und fühlte keine Wärme. Er lag regungslos in seinen Kleidern. Sie sagte zu ihm: »Mein Bruder Setom, es. ist keine Wärme in der Brust, und es ist kein Leben in deinem Fleisch, nur Leid und Betrübnis im Herzen.« Er aber sagte zu ihr: »Laß mich, meine Schwester Meh-usechet; das, weshalb mein Herz bekümmert ist, ist nichts, was ich einer Frau zu enthüllen das Recht hätte.«

Dann kam das Kind Si-Osire herein, stellte sich vor Setom, seinen Vater, und sagte zu ihm: »Mein Vater Setom, warum liegst du mit solchem Herzeleid da? Erzähle mir, was du in deinem Herzen verbirgst, damit ich es dir vertreibe.« Er aber antwortete: »Laß mich, mein Sohn Si-Osire! Für das, was in meinem Herzen ist, bist du noch zu jung und bist du noch nicht groß genug. Gib nur auf dich selber acht!« Aber Si-Osire sagte: »Sprich es vor mir aus, damit ich dein Herz davon erleichtere.«

Da sagte Setom: »Mein Sohn Si-Osire, ein Fürst von Äthiopien ist nach Ägypten herabgekommen mit einem versiegelten Brief auf seinem Leibe, und er sagt: >lst irgend jemand da, der ihn lesen kann, ohne ihn zu öffnen? Wenn sich zeigen sollte, daß es keinen guten Schreiber oder gelehrten Mann in Ägypten gibt, der imstande ist, ihn zu lesen (ohne ihn zu öffnen), dann werde ich die Schmach Ägyptens ins Land der Neger, meine Heimat, austragen.< Siehe, darum habe ich mich mit überaus bekümmertem Herzen niedergelegt, mein Sohn Si-Osire.«

Als Si-Osire diese Worte hörte, lachte er eine Zeitlang. Dann sagte Setom zu ihm: »Weshalb lachst du?« und er antwortete: »Ich lache, weil du dich mit betrübtem Herzen niederlegst nur wegen solcher Kleinigkeit. Erhebe dich, mein

Vater Setom, ich bin imstande, den Brief zu lesen, der nach Ägypten gebracht wurde, ohne ihn zu öffnen, und auch zu erkennen, was in ihm geschrieben steht, ohne sein Siegel aufzubrechen.«

Da Setom diese Worte hörte, erhob er sich aug<*nblicklich und sagte: »Was soll das bedeuten, was du gesagt hast, mein Sohn Si-Osire?« Da sagte er zu ihm: »Mein Vater Setom, gehe m das Kellergemach deines Hauses. Von jedem Buch, das du aus dem Kasten herausnehmen wirst, werde ich dir sagen, was für ein Buch es ist, und ich werde es lesen, ohne es zu sehen, vielmehr vor dir stehen in deinen Kellerräumen.«

Da erhob sich Setom, stellte sich auf die Füße und tat alles genau, was Si-Osire ihm gesagt hatte. Si-Osire las jedes Buch, das Setom, sein Vater, vor ihm herausnahm, ohne daß er es öffnete. Setom stieg aus den Räumen des Kellergeschosses hinauf zu 'seinen Zimmern m eitel Glück und Freude. Er säumte nicht, sich zu Pharao zu begeben, und er berichtete vor ihm alles, was das Kind Si-Osire ihm gesagt hatte. Sein Herz war darüber gar glücklich.

Zu selbiger Zeit reinigte sich Pharao für ein Fest zusammen mit Setom, und er ließ zu dem Fest auch Si-Osire vor sich holen. Sie tranken und feierten einen schönen Tag.

Als der Morgen des folgenden Tages gekommen war, erschien Pharao im Hofe zwischen seinen Großen. Pharao ließ den Fürsten von Äthiopien holen, und man brachte ihn in den Hof mit dem versiegelten Brief auf seinem Körper. So stand er in der Mitte des Hofes, Dann trat der Knabe Si-Osire in die Mitte, er stellte sich neben den Fürsten von Äthiopien und redete ihn an: »Wehe, du Elender von Äthiopien, den sein Gott Amun zerschmettern möge! Der du herabgekommen bist nach Ägypten, dem schönen Garten des Osiris, dem Schemel des Re-Harachte, dem schönen Ruheort des Guten Geschicks, mit der Absicht: >Ich will seine Schmach ins Land der Neger austragen!< Der Zorn des Amun, deines Gottes, treffe dich! Die Worte, die ich nun aussprechen werde, sind jene, die in dem Briefe geschrieben stehen. Sag nichts Falsches über sie vor Pharao, deinem Oberhaupt!«

Als der Fürst von Äthiopien den Knaben Si-Osire in dem Hofe stehen sah, senkte er seinen Kopf zu Boden und sagte: »Über kein Wort, das du aussprechen wirst, will ich etwas Falsches sagen!«

Hier beginnen die Geschichten des Si-Osire, die er vor Pharao und seinen Fürsten erzählte, während das Volk von Ägypten seiner Stimme lauschte. Er sprach: „Was geschrieben steht in dem Briefe des Fürsten von Äthiopien, der hier in der Mitte steht, ist folgendes:

Es begab sich einmal zur Zeit des Pharao Mench-pa-Re, Sohnes des Amun, der ein wohltätiger König des ganzen Landes war, daß Ägypten Überfluß hatte an allen guten Dingen zu seiner Zeit. Er war freigiebig im Geben von Geschenken und unternehmend bei den Arbeiten in den großen Tempeln von Ägypten.

Eines Tages nun begab es sich, daß der Häuptling des Landes der Neger in einer Laube in den Feldern des Landes des Amun ruhte. Da hörte er die Stimme dreier Fürsten Äthiopiens aus einem Hinterhaus heraus. Der eine von ihnen sagte mit lauter Stimme unter anderem: »Wenn ich nicht fürchten müßte, daß Amun etwas Böses gegen mich erfindet noch daß der Häuptling von Ägypten mir etwas Schreckliches antun läßt, dann würde ich meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen und damit bewirken, daß das Volk von Ägypten drei Tage und drei Nächte verbringen würde, ohne ein anderes Licht zu sehen als das von Öllampen.«

Ein anderer von ihnen sagte unter anderem: »Wenn ich nicht fürchten müßte, daß Amun ein Unglück gegen mich erfindet noch daß der Häuptling von Ägypten mir etwas Schreckliches antun läßt, dann würde ich meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen und damit bewirken, daß Pharao von Ägypten ins Land der Neger gebracht würde, und

ich ließe ihm fünfhundert Peitschenhiebe geben, ganz öffentlich angesichts des Häuptlings, und ich ließe ihn in genau sechs Stunden wieder dorthin nach Ägypten zurückbringen.«

Der dritte von ihnen sagte unter anderem: »Wenn ich nicht fürchten müßte, daß Amun etwas Böses gegen mich erfindet noch daß der Häuptling von Ägypten mir etwas Schreckliches antun läßt, dann würde ich meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen und damit bewirken, daß das Land drei Jahre lang nicht fruchtbar würde.«

Als der Häuptling die Reden der Stimmen der drei Fürsten Äthiopiens hörte, ließ er sie vor sich holen, und er sagte zu ihnen: »Wer von euch ist es, der gesagt hat: >Ich will meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen, und ich will sie drei Tage und Nächte lang kein Licht sehen Iassen?<« Sie antworteten: »Es ist Horus, der Sohn der Sau.«

Dann fragte er: »Wer ist es, der gesagt hat: >Ich will meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen, und ich will Pharao ins Land der Neger bringen, und ich will ihm fünfhundert Peitschenhiebe geben lassen, ganz öffentlich, angesichts des Häuptlings, und ich will ihn in genau sechs Stunden wieder dorthin nach Ägypten zurückbringen lassen?<« Sie antworteten: »Es ist Horus, der Sohn der Negerin.«

Dann fragte er: »Wer ist es, der gesagt hat: >Ich will meinen Zauber hinab nach Ägypten werfen, und ich will das Land drei Jahre lang nicht fruchtbar werden lassen?<« Sie antworteten: »Es ist Horus, der Sohn der Fürstin.«

Da sagte der Häuptling zu Horus, dem Sohn der Negerin: »Wende sie an, deine Zauberformel: Bei dem Leben des Amun, dem Stier von Meroe, meinem Gott, wenn das Werk deiner Hand gelingt, so will ich dir eine Fülle von guten Dingen tun.«

Horus, der Sohn der Negerin, machte eine Trage aus Wachs mit vier Trägern. Er sprach einen Spruch über sie, er hauchte ihnen Odem ein und machte sie lebendig. Dann befahl er ihnen folgendes: »Geht hinab nach Ägypten, bringt Pharao von Ägypten herauf, dorthin, wo der Häuptling ist. Er soll fünfhundert Peitschenhiebe bekommen, ganz öffentlich, angesichts des Häuptlings, und dann bringt ihn nach Ägypten zurück in sechs Stunden!« Sie sagten: »Hei, großartig, wir werden nichts auslassen.«   - Altägyptische Märchen. Hg. E. Brunner-Traut. Düsseldorf Köln 1965 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

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