Brasilien  Tobias Barretto meint, in Brasilien könne unmöglich »ein genialer Roman« erscheinen, weil »unser öffentliches und privates Leben nicht hinlänglich reich an Schicksalswendungen und romanhaften Vorfällen« sei. Er bedauert, daß unter uns »eine aufrichtige, dem Delirium nahe, schreckensvolle und blutrünstige Liebe« selten sei, oder daß sie sich, wenn sie einmal vorkomme, einen alten Mann wie den Landgerichtsrat Fontes Visgueiro aussuche, den berühmten Mörder aus Alagoa zur Zeit des Zweiten Kaiserreiches. Und er kommentiert bissig: »Selbst das eine oder andere Verbrechen, das vielleicht sein Haupt über das Niveau der Gewöhnlichkeit zu erheben vermag, kann den allgemeinen Eindruck beständiger Eintönigkeit nicht verwischen. Selbst in der Kriminalstatistik erweist sich unser Land als kleinkariert. Das häufigste Verbrechen ist eben das leichtsinnigste und törichteste: der Pferdediebstahl.«

So etwas liest man und wird ganz mutlos, weil man meint, es sei für einen Brasilianer unmöglich, Homer und andere hoch-quotierte ausländische Genien zu überbieten! Glücklicherweise ruft uns Doktor Samuel zur gleichen Zeit in Erinnerung, daß die Eroberung Lateinamerikas »ein Heldenepos« war. Wir ersehen daraus, daß wir viel größer sind als Griechenland - dieses kleine Drecksland! -, und bei diesem Gedanken erholt sich unser Herz, das von Ungerechtigkeit erbittert, aber auch von Hoffnungen entflammt wird!   - (stein)

Brasilien (2)  Ein Soziologe:

- Von 1 960 Bewohnern des bahianischen Stadtteils Maciel arbeiten 690 Jugendliche nicht.

- Es gibt 449 Prostituierte, davon sind 24 minderjährig. Die Kinder fangen hier mit zwölf Jahren an,

- Viele Häuser, die als Bordelle und Absteigen dienen, gehören religiösen Bruderschaften, das heisst, sie werden von der Kirche vermietet.

- Es stimmt, auf 80 Bewohner kommt nur eine Toilette.

- Die Einwohner behaupten: Auf jeden Menschen kommen hier zehn Ratten. Die Seuchengefahr äst beträchtlich. Besonders die unheilbare Leptospirose wird gefürchtet.

- Lepra gibt es hier nicht - aber in den anderen Vierteln der Stadt. Ein Leprakranker verkaufte jahrelang Süssigkeiten im Viertel Liberdade. Neben dem Hospital da Misericordia im Stadtteil Montserrat gibt es noch heute eine Leprastation.

- Wir leben in Brasilien in einer Informationsleere, die schmerzt. Man hat noch die Freiheit zu reden, was man will. Aber die Universitätsprofessoren müssen bereits einen Revers unterschreiben, dass sie keine Meinungen vertreten wollen, die der Politik des Staates entgegengesetzt sind. Ich will nicht reden hören - ich will handeln können.

- Jeder von uns hat daran gedacht zu emigrieren. Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass ich hier versuchen rnuss, das Mögliche zu tun.

- Ich habe mich vom Staat anstellen lassen und verdiene 220 Cruzeiros im Monat - etwas mehr als 140 Mark. Aber seit drei Monaten ist uns kein Gehalt ausbezahlt worden.  - (xan)

Brasilien (3)  Ein Händler aus Irece sagt:

- Die Gemeinde hat 70 bis 80 000 Einwohner.

- Von der Dürre sind hier in der Region etwa 200 000 Menschen betroffen.

Ein paar hundert Familien besitzen zwischen tausend und zweitausend Hektar Land, Das wird in Brasilien nicht als Grossgrundbesitz angesehen.

-Die meisten Bauern haben Anwesen von 20 bis 50 Hektar hier in der Gegend. Nicht nur Ackerland. Es sind auch Weiden dabei.

- Die meisten Familien, die aus dem Norden einwandern, wollen sich hier fest ansiedeln.

- Vor fünf Jahren hatte Irece Stadt 6 000 Einwohner. Heute sind es 16000.

- Vor einem Jahr fehlten hier die Arbeitskräfte. Die Besitzer zahlten bis zu 6 Cruzeiros für acht Stunden Arbeit am Tag, 4 Mark.

- Die Regenzeit ist von März bis Oktober.

- Dieses Jahr ist der Mais verdorrt. Die erste Bohnensaat auch. Wer ein zweites Mal Bohnen gesät hat, könnte vielleicht noch was ernten.

- Die Armen sind natürlich am meisten getroffen. Aber auch die Begüterten haben Schwierigkeiten bei den Banken.

- Bis heute sind 3 000 Saisonarbeiter aus dem Norden zwangsweise zurücktransportiert worden. Wieviele hergezogen sind, kann ich nicht sagen. Viele sind am Strassenrand gestorben und ohne Totenschein auf den Feldern eingescharrt worden.

- Die meisten Geburten werden nicht eingetragen.

- Kinderkrankheiten, Deshydratation, Vitaminmangel, Wurmbefall sind hier am häufigsten. Beulenpest wird durch den Rattenfloh übertragen. Ratten sind wegen des Mais hier häufig. Rattenvernichtung stinkt. Das mögen die Leute nicht. In einigen Dörfern sind 50 Prozent der Bevölkerung lungenkrank.

Pocken werden jetzt durch Massenimpfungen bekämpft.

- Lepra gibt es auch. Die Kranken werden in kleinen Laubhütten auf den Feldern versteckt.

-Der Sklavenhandel ist noch nicht zu Ende. Voriges Jahr kam ein Lastwagenfahrer aus Pernarabuco mit Leuten, die in Irece arbeiten wollten. Sie hatten nicht genügend Geld, um die Reise zu bezahlen. Der Fahrer sprach mit einigen Fazendeiros, die bezahlten ihm das Fahrgeld für die Passagiere und eine Prämie pro Kopf. Er lieferte die Leute ab. Sie waren auf Grund der Schulden den Fazendeiros rechtlos ausgeliefert.

- Hier ist es nicht üblich, den fest angestellten Landarbeitern einen Lohn zu zahlen. Wenn sie Kleidung oder Medikamente benötigen, wenden sie sich an den Fazendeiro und der gibt ihnen das Dringendste. Auf diese Weise hält der Landbesitzer die Arbeiter in völliger Abhängigkeit und spart.

- Das Brunnenwasser in Irece ist kalkhaltig und zerstört die Gare des Bodens. Es ist mit Amöben und Würmern verseucht. Das Regenwasser aus den Tümpeln ist noch gefährlicher. Übrigens leben die Erwachsenen ganz gut mit Amöben. Wer als Kind nicht daran zugrunde geht, braucht sie nicht mehr zu fürchten.

- Es gibt hier eine kostenlose medizinische Betreuung. Die Patres sind daran beteiligt. Deshalb kommen die Leute auch ohne Misstrauen.

-Auf die ca. 70 ooo Einwohner der Gemeinde Irece kommen vier Arzte. Aber wer kann sich schon einen Arzt leisten.

-Eine Hebamme registrierte bei 150 Geburten 75 Totgeburten. In der Stadt gibt es ungefähr 250 Prostituierte.

- In Brasilien kann man sich nicht scheiden lassen. Oft lassen sich die Männer einmal kirchlich trauen und ein zweites Mal mit einer zweiten Frau standesamtlich.

-Die Frau wird wie eine Sklavin gehalten. Der Mann darf alles, die Frau nichts. Sie soll arbeiten und Kinder kriegen.

Manche Frauen haben in ihrem Leben zwanzig Geburten. Die Hälfte der Kinder werden gross.

Die Familien haben wenigstens sechs Kinder.

- Es gibt keine Sozialversicherung.

- Die Müttersterblichkeit ist gross.

- Die Lebenserwartung liegt hier bei 47 Jahren etwa.

- Homosexualität kommt nicht vor.

- Nur 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder könnten einen Schulplatz finden, vorausgesetzt, dass die Eltern die Kinder in die Schule schicken. Als Lehrerinnen arbeiten irgendwelche, kaum vorgebildete Mädchen. Schule findet einmal in der Woche statt. Es gibt in der Gemeinde Irece fünf Gymnasien. Sie kosten 10 bis 30 Cruzeiros im Monat. In der Stadt Irece besuchen 500 Schüler das Gymnasium, 50 Schüler besuchen Abendkurse - das sind alles in allem 5 Prozent der begabten Schüler.

- Das Essen der Arbeiter besteht aus Reis, Mais und Bohnen. Gelegentlich Pökelfleisch. Es herrscht allgemein Vitaminmangel.

- Von den Ansässigen verhungern wenige.

- Die Saisonarbeiter leben hauptsächlich von Kaktusfeigen.

- Die Arbeiter lesen nicht. Früher kam nicht einmal die Zeitung nach Irece.

-Die meisten sind Katholiken. Oberflächlich. Es gibt auch Protestanten, Spiritisten und natürlich den Candomblö.

- Um die ansässigen Arbeiter auch in Notzeiten beschäftigen zu können, wurden die Frentes de Trabalho aufgestellt. Gab es in der Landwirtschaft keine Arbeit, wurden sie auf dem Bau beschäftigt. Sie bekamen dann zwei Cruzeiros am Tag - etwa eine Mark vierzig. Jetzt bei der Trockenheit werden alle Rücklagen verbraucht und niemand beginnt mit neuen Bauvorhaben.

- Auf den Fazendas gibt es keine körperlichen Strafen mehr.

- Alkoholismus ist häufig.

- Weniger Verbrechen als sonst unter der Landbevölkerung.

- Häufiger Idiotismus. Erbanlagen, Inzucht. Syphilis. Alkohol.

- In Irece Stadt gibt es fünf Polizisten. Jeder Arbeiter, der auf das Polizeikommissariat gebracht wird, kriegt erst mal Prügel. Mit dem Knüppel. Oft werden die Leute blutig geschlagen.

 

Antworten eines Arztes aus Irece:

- Irece Stadt hat 15 000 Einwohner, die Gemeinde 60 ooo. Auf diese 60 000 kommen sechs Ärzte, nicht vier.

- Im ersten Lebensjahr sterben hier 70 Prozent der Säuglinge. 50 Prozent der Kinder erreichen das Erwachsenenalter. Die Mütter-sterbliclikeit liegt bei 20 Prozent.

- Typhus und Beulenpest treten epidemisch auf. Pest auch endemisch.

- go Prozent der Kinder haben Amöben. Lepra tritt mehr in den angrenzenden Regionen auf - aber auch hier.

- Das Tetrex aus den Apotheken muss alles heilen.

- Pocken werden durch die Gastarbeiter aus Pernambuco eingeschleppt. Besonders häufig ist die viszerale Leishmaniasis. Parasiten blähen den Leib auf. Milz, Leber, Knochenmark werden befallen. Ohne Behandlung endet die Krankheit nach einigen Monaten tödlich. Die Chagaskrankheit ist verbreitet. Sie wird durch die Raubwanze übertragen und ruft Veränderungen an Herz, Leber und Milz hervor. Eine wirksame Therapie ist immer noch nicht gefunden.

- Durch Unterernährung hervorgerufene Rachitis.

-Alle Reichen benützen hier empfängnisverhütende Mittel, 50 Prozent der Mittelklasse, aber nur 10 Prozent der armen Bevölkerung.

- Ein Fünftel der Bevölkerung kann als Mittelklasse angesprochen werden.

- Vier Fünftel verdienen nicht einmal den gesetzlich festgelegten Mindestlohn, sondern oft weniger als drei Cruzeiros am Tag, zwei Mark.

-Die Lebenskosten in Irece liegen höher als in der Grossstadt Bahia.

- Die Armen wenden sich bei Erkrankungen zuerst an den Cura-dor, den Kurpfuscher. Wenn der keine Abhilfe schafft, wenden sie sich an den Apotheker, der ihnen meistens Tetrex gibt - die Kranken können natürlich ihren Zustand nicht richtig charakterisieren. Im äussersten Fall wenden sie sich an einen Arzt.

- Elektrizität gibt es nur in den Häusern der Mittelklasse.  - (xan)

 

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