Boudoir, veränderliches  Dieses Boudoir ist sehr klein und schmal. Über dem Kranzgesimse wölbt sich die Decke in die Höhe. Die Wände sind mit schmalen, hohen Spiegeln bedeckt. Diese werden von Holztäfelungen getrennt, die in losem Dekorationsstil mit Landschaften bemalt sind. Auf der Höhe der Kranzleiste sind an den vier Wänden verschiedene allegorische Figuren zu sehen. Die einen sind in ausgeruhter Stellung, die ändern laufend oder schwebend dargestellt. Darüber erblickt man prächtig schimmernde Vögel und Blumen. Hinter den Figuren erhebt sich täuschend gemaltes Gitterwerk, das sich in natürlicher Art der Deckenwölbung anpaßt. Die Decke ist vergoldet.

Alle Zwisclienräume zwischen den Gitterstäben und den Figuren sind daher mit Gold bedeckt, und in der Mitte wird das Gold nur von dem geometrischen Geflecht des vorgetäuschten Gitterwerks unterbrochen. Ihr seht, das Ganze gleicht ein wenig einem sehr vornehmen Käfig, einem wunderschönen Käfig für einen sehr großen Vogel. Ich muß noch hinzufügen, daß die Nacht herrlich und ungemein klar war. Der Mond schien so hell, daß die ganze Verzierung, selbst nachdem ich die Kerze ausgelöscht hatte, noch sichtbar blieb. Sie war - wie ihr euch denken könnt -nicht vom Auge meines Geistes, sondern von der schönen Nacht erhellt, deren Schimmer sich über all die Verzierungen aus Gold, Spiegeln und bunten Farben ausbreitete.

Ich war zunächst sehr erstaunt zu sehen, wie sich vor mir, neben mir und ringsum weite Räume auftaten. Klare Flüsse und grünende Landschaften spiegelten sich in ruhigen Gewässern. Ihr könnt leicht erraten, daß dies die Wirkung der von den Spiegeln reflektierten Täfelungen war. Als ich die Augen hob, sah ich einen Sonnenuntergang, der geschmolzenem, sich abkühlendem Metall glich. Es war das Gold des Deckengewölbes. Das Gitterwerk jedoch flößte mir den Gedanken ein, ich befinde mich in einer Art Käfig oder in einem nach allen Seiten hin offenen Haus und sei von all den Wundern nur durch die Stäbe meines prächtigen Gefängnisses getrennt. Zuerst lachte ich über meinen Irrtum. Allein, je mehr ich hinschaute, um so mehr wuchs die bezaubernde Wirkung, um so mehr Leben, Durchsichtigkeit und eigenmächtige Wirklichkeit gewann sie. Von da an beherrschte der Gedanke des Eingeschlossenseins meinen Geist, jedoch - das muß ich erwähnen - ohne den verschiedenartigen Freuden Abbruch zu tun, die mir aus dem Schauspie] rings um mich zuflössen. Ich dachte, ich wäre für lange Zeit, für Tausende von Jahren vielleicht, in diesem prunkvollen Käfig, inmitten dieser zauberhaften Landschatten, zwischen diesen prachtvollen Horizonten eingeschlossen. Ich träumte von Dornröschen, von einer mir auferlegten Sühne-von künftiger Erlösung. Über meinem Kopf flatterten schillernde tropische Vögel, und da mein Öhr den Klang der Schellen am Hals der Pferde vernahm, die in der Ferne auf der Hauptstraße vorüberzogen, vermischten die beiden Sinne ihre Eindrücke zu einem einzigen Gedanken. Ich schrieb den Vögeln den geheimnisvollen Schellenklang zu und glaubte, sie flöteten mit metallener Kehle. Offensichtlich sprachen sie von mir und rühmten meine Gefangenschaft. Herumturnende Affen und drollige Satyrn schienen sich über die daliegende, zur Reglosigkeit verdammte Gefangene lustig zu machen. All die mythologischen Gottheiten aber schauten mich mit reizendem Lächeln an, als wollten sie mich dazu ermutigen, den Zauber geduldig zu ertragen. Und all die Pupillen glitten in die Augenwinkel, um sich an meinen Blick zu heften. Ich schloß daraus: Wenn frühere Fehler, wenn irgendwelche mir unbekannte Sünden diese vorübergehende Bestrafung erheischten, konnte ich doch auf eine höhere Güte zählen, die mir, indem sie mich zur Einsicht verurteilte, tiefere Freuden böte als jene Puppenfreuden, die unsere Jugendzeit ausfüllen. Ihr seht: Auch moralische Betrachtungen fehlten in meinem Traum nicht. Doch muß ich gestehen, daß das Vergnügen, diese Formen und die leuchtenden Farben zu betrachten und mich im Mittelpunkt eines phantastischen Schauspiels zu wissen, oft alle ändern Gedanken absorbierte. Dieser Zustand dauerte lange, sehr lange... Dauerte er bis zum Morgen? Ich weiß es nicht. Mit einem Mal sah ich, daß die Morgensonne mein Zimmer erfüllte. Ich empfand lebhafte Verwunderung, und trotz aller Anstrengungen, mich zu erinnern, war es mir unmöglich zu erfahren, ob ich geschlafen oder geduldig eine wundervolle schlaflose Nacht verbracht hatte. Soeben war es noch Nacht gewesen, jetzt war es Tag! Doch hatte ich das alles lange erlebt, oh, sehr lange...!

Da der Zeitbegriff oder vielmehr das Zeitmaß aufgehoben war, blieb die ganze Nacht für mich nur an der Vielfalt meiner Gedanken meßbar. Solange sie mir, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheinen mußte, war mir doch, sie habe nur einige Sekunden gedauert oder habe sogar in der Zeit gar keinen Platz eingenommen. - Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)

Zimmer Veränderbarkeit


Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme