orges   Es war das oberste Zimmer des Hotels. Ich öffnete die Tür und trat ein. Die Deckenleuchte war nicht ausgeschaltet. Unter dem erbarmungslosen Licht erkannte ich mich. Rücklings auf dem schmalen Eisenbett, älter, abgemagert und sehr blaß lag ich, die Augen auf die Stuckarbeiten in der Höhe gerichtet. Ich hörte die Stimme. Es war nicht genau meine, sondern ungefähr so, wie ich sie von meinen Tonbandaufnahmen kenne, unangenehm und ohne Nuancen. »Merkwürdig«, sagte die Stimme. »Wir sind zwei, und wir sind derselbe. Aber im Traum ist nichts merkwürdig.«

Ich fragte erschrocken: »Dann ist dies alles ein Traum

»Ich bin sicher, es ist mein letzter Traum.«

Er wies auf das leere Fläschchen auf der Marmorplatte des Nachttischs. »Du dagegen wirst noch viel zu träumen haben, bevor du zu dieser Nacht gelangst. Welches Datum hast du?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich verwirrt. »Aber gestern bin ich einundsechzig geworden.«

»Wenn dein Wachen bis zu dieser Nacht gelangt ist, wirst du gestern vierundachtzig geworden sein. Heute haben wir den 25. August 1983.«

»So viele Jahre muß ich noch warten«, murmelte ich.

»Mir bleibt nichts mehr«, sagte er barsch. »Jeden Augenblick kann ich sterben, mich in dem verlieren, wovon ich nichts weiß, und ich träume immer noch vom Doppelgänger. Das abgedroschene Thema, das ich von den Spiegeln habe und von Stevenson.«

Ich empfand die Erwähnung Stevensons als einen Abschied und nicht als Schulmeistere!. Ich war er und begriff. Auch noch so dramatische Augenblicke lassen einen nicht zu Shakespeare werden und denkwürdige Aussprüche finden. Um ihn abzulenken, sagte ich:

»Ich wußte, daß dir das zustoßen würde. Hier, in einem der unteren Zimmer, haben wir Vorjahren mit dem Entwurf dieser Selbstmordgeschichte begonnen.«

»Ja«, sagte er langsam, als ob er Erinnerungen sammelte. »Aber ich sehe den Zusammenhang nicht. In dem Entwurf hatte ich eine einfache Fahrkarte nach Adrogue gelöst, und einmal im Hotel Delicias war ich nach oben ins Zimmer 19 gegangen, das entlegenste von allen. Da hatte ich mich umgebracht.«

»Deshalb bin ich hier«, sagte ich.

»Hier? Wir sind immer hier. Hier träume ich dich in dem Haus in der Galle Maipù. Von hier, aus Mutters altem Zimmer, gehe ich gerade weg.«

»Mutters Zimmer«, wiederholte ich und wollte nicht verstehen. »Ich träume dich in Zimmer Nummer 19, im oberen Stockwerk.«

»Wer träumt wen? Ich weiß, daß ich dich träume, aber ich weiß nicht, ob du mich träumst. Das Hotel in Adrogué wurde schon vor vielen Jahren abgerissen, vor zwanzig, vielleicht vor dreißig. Wer weiß?«

»Der Träumer bin ich«, sagte ich ein wenig trotzig.

»Ist dir nicht klar, daß es darauf ankommt, herauszufinden, ob nur einer träumt oder zwei einander träumen

»Ich bin Borges, der deinen Namen im Gästebuch gesehen hat und heraufgekommen ist.«

»Borges bin ich, und ich sterbe gerade in der Calle Maipù.«  - Jorge Luis Borges, 25. August 1983. In: J.L.B.,  Spiegel und Maske. Frankfurt am Main 2000 (zuerst 1980/83)

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