löße
Nietzsche hat die Parabel von einem erfunden, der den unstillbaren
Drang hat zu sehen, was keiner sehen will - sich selber; dazu noch hat
er einen zu großen Mangel an Schweigsamkeit, um nicht preiszugeben, was er bei
sich gesehen und verstanden hat. Zuerst erregt er Anstoß, dann Verdacht, wird
von der Gesellschaft geächtet, schließlich von der Justiz erfaßt, die ihn den
Weg zum Ende gehen läßt. Der anonyme Held der Geschichte war nicht nur mit seinem
Defizit an Diskretion geschlagen, sondern dem zuvor noch mit der Undichtigkeit
des Schutzschirms, der dem Menschen zu seinem Glück verliehen ist, undurchsichtig
zu sein: Dieser war es nicht für sich selbst. Der Bedeckung seiner letzten Blöße
bedarf der Mensch eben nicht nur vor den anderen, auf deren Dezenz er nicht
rechnen kann, sondern auch, vielleicht noch mehr, vor sich selbst. - (
blum3
)
Blöße (2) Sie hatte gesagt, was weißt du denn von mir,
was, wie ich bin, eigentlich. Er sagte sich, daß sie ihn damit nur hinhalten
wollte, ein einfacher Trick, der ihm so leicht durchschaubar vorkam. Lächerlich.
Ein Geheimnis aus sich machen, rat mal, wie bin
ich denn wirklich. Du siehst mich, siehst mich doch nicht und siehst mich wieder.
So konnte man es natürlich auch einmal sehen. Jeder versteckte sich vor dem
anderen, ganz offensichtlich, und deswegen, hast du mich gefunden, glaubst du,
das war ich nun. Aber das ist nur gedacht. Es ist nicht wahr. In Wirklichkeit
bin ich anders, ich bin da, so, und gar nicht versteckt, wenn du das glaubst.
Und nehmen wir an, daß es tatsächlich so ist. Dann blieb doch nur eines übrig,
das nämlich so auszusprechen, Satz um Satz, Gedanken nach Gedanken wie Schichten
von Kleidung, die man auf sich gepackt hat, um nicht zu frieren, Unterkleidung,
Oberhemden, Hosen, Socken, Schuhe, Jacken, Schlipse, Mäntel, ein Schal. Aber
einmal mußte man das alles doch ablegen können, vielleicht um den Preis, daß
man dann etwas fror. Man mußte sich aber hinstellen und sich zeigen, ohne Rücksicht,
ob es vorteilhaft war, denn schließlich konnte man sich immer noch so hindrehen,
daß es irgendwie selbst dann noch etwas vorteilhaft wirken mußte, weil der andere,
der zusah, auch seine Kleidungspacken- abgelegt hatte und auch wie man selber
nackt war. Er sah zu, den anderen an, und war nicht da, um sich abzuwenden,
wie man einmal annehmen konnte. Das war schwer, sicherlich, Gefahr zu laufen,
dabei zu frieren, obwohl sich das alles in der Wohnung abspielte, einem geheizten
Raum, dessen Gardinen zugezogen waren. Und die Blöße, die man einander dann
dort zeigte, war nicht nur bloß Haut. Es waren genauso
auch Pickel, wenige, winzige, oben am Gesäß. Und genauso waren es Lichtwirkungen,
die sie wieder verdeckten. Also mußte man stehenbleiben, sich anschauen lassen
und nicht verstecken, und wenn auch nur hinter so einer kleinen schamhaften
Geste, einer halben Drehung, halb abgewandt, um dabei zu fragen, und nun? Es
würde schon weitergehen. - (
brink
)
Blöße (3)
- Bosc, Alles, bloß das nicht! Zürich 1982 (Diogenes,
detebe 21890)
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