litzableiter  Der Blitzableiterverkäufer kam kurz vor dem Gewitter. Am Spätnachmittag dieses wolkenverhangenen Oktobertages ging er die Hauptstraße von Green Town entlang und warf immer wieder verstohlene Blicke über die Schulter. Irgendwo da hinten, gar nicht weit entfernt, erbebte die Erde unter gewaltigen Blitzen. Irgendwo spürte er das Gewitter, dieses riesige Ungeheuer mit den schrecklichen Zähnen.

So ging der Vertreter von Tür zu Tür, klapperte mit seiner überdimensionalen Ledertasche voller seltsamer eiserner Puzzles und sagte immer wieder sein Sprüchlein auf, bis er an den Rasen kam. Hier stimmte etwas nicht. Er war ganz falsch gemäht. Nein. Es war nicht der Rasen. Der Vertreter hob den Blick. Es waren die beiden Jungen, die oben auf einem kleinen Hügel im Gras lagen. Die beiden Jungen waren ungefähr gleich groß und gleich kräftig. Sie saßen da, schnitzten Weidenpfeifen und redeten über Vergangenes und Künftiges. Den ganzen vergangenen Sommer über war in Green Town nichts vor ihnen sicher gewesen, was nicht niet- und nagelfest war; Jeder Weg und Pfad, jeder Quadratfuß Boden zwischen hier und dem See trug ihre Fußspuren, seit die Schule wieder begonnen hatte.

»Hallo, Jungs!« rief der Mann im sturmfarbenen Mantel. »Jemand zu Hause?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

»Hm ...« Der Vertreter kam noch zwei oder drei Schritte näher, dann blieb er stehen und zog die Schultern ein. Plötzlich schienen ihn die Fenster eines Hauses anzustarren, oder vielleicht war es auch der kalte Blick eines Wolkenauges, den er im Nacken spürte. Er drehte sich langsam um und hob die Nase in den Wind. Der rüttelte an den kahlen Bäumen. Durch ein Wolkenloch brach ein feiner Sonnenstrahl und malte die letzten Eichenblätter an den Zweigen golden an. Aber dann verschwand die Sonne, der Schimmer verblich, alles verfloß Grau in Grau. Der Vertreter löste sich von dem Bann.

Langsam ging er durch das Gras den Hügel hinauf. »Wie heißt du denn, mein Junge?«

Der erste Junge, weißblond wie eine Distel, kniff ein Auge zu und blinzelte den Vertreter an. Sein offenes Auge schimmerte groß, hell und klar wie ein Tropfen Sommerregen. »Will«, antwortete er. »Will Halloway.« Der gewittergraue Herr wandte sich an den zweiten. »Und du?« Der zweite Junge regte sich nicht. Er lag bäuchlings im Herbstgras und überlegte, ob er nicht lieber einen Namen erfinden sollte. Sein wirrer, dichter Haarschopf glänzte wie eine polierte Kastanie. Seine smaragdgrün schimmernden Augen blickten starr auf einen fernen Punkt - irgendwo tief in seinem Innern. Schließlich schob er sich lässig einen Grashalm zwischen die Lippen. »Jim Nightshade«, murmelte er. Der Gewittermann nickte, als hätte er das gleich gewußt. »Nightshade. Nachtschatten. Was für ein Name!« »Sehr treffend«, sagte Will Halloway. »Ich bin eine Minute vor Mitternacht zur Welt gekommen, am 30. Oktober, er eine Minute nach Mitternacht. Also am 31. Oktober.« Ihren Stimmen war anzumerken, daß sie ihr ganzes Leben lang diese Geschichte immer wieder erzählt hatten, stolz auf ihre Mütter, die Tür an Tür wohnten, zur gleichen Zeit ins Krankenhaus gebracht wurden und im Abstand von wenigen Sekunden ihre Söhne zur Welt brachten. Einer hell, einer dunkel. Sie feierten immer zusammen. Jahr für Jahr durfte Will die Kerzen auf dem gemeinsamen Geburtstagskuchen eine Minute vor Mitternacht anzünden. Eine Minute nach Mitternacht, wenn der letzte Tag des Monats angebrochen war, blies Jim sie wieder aus.

Das erzählte Will begeistert, und Jim nickte schweigend. Der Vertreter las die Geschichte von ihren Gesichtern ab. Er war vor dem Gewitter hergelaufen, aber hier zögerte er. »Halloway. Nightshade. Kein Geld in der Tasche, wie?« Der Mann seufzte über seine eigene Gewissenhaftigkeit, öffnete die gewaltige Ledertasche und holte ein Ding aus Eisen heraus. »Ich schenk's euch. Warum? Weil der Blitz in eins von diesen Häusern einschlagen wird. Kein Blitzableiter - peng! Feuer und Asche, verkohltes Fleisch und glimmendes Holz. Da, nimm schon!« Der Mann ließ den Blitzableiter los. Jim rührte sich nicht. Aber Will griff nach dem Eisenstück und schnappte nach Luft. »Junge, ist das schwer! So einen komischen Blitzableiter hab' ich noch nie gesehen. Schau mal, Jim!«

Jim rekelte sich schließlich wie eine Katze und wandte ihm den Kopf zu. Seine grünen Augen wurden erst sehr groß und dann sehr eng.

Das Eisending war teils wie ein Halbmond, teils wie ein Kreuz geformt. An den Hauptstab waren ringsherum eigentümliche Schnörkel und Dinger nachträglich aufgeschweißt worden. Die ganze Oberfläche des Stabes war mit winzigen Zeichen graviert, mit Namen, an denen man sich die Zunge zerbrechen konnte, mit Zahlen,

die unfaßbare Größen ergaben, mit Darstellungen von Insekten mit starrenden Borsten und Klauen.

»Das ist etwas Ägyptisches.« Jim deutete mit der Nase auf einen Käfer, der auf das Eisen aufgeschweißt war. »Ein Skarabäus.« »Stimmt, mein Junge.«

Jim blinzelte. »Und das da - phönizische Schriftzeichen.« »Richtig.«

»Warum?« fragte Jim.

»Warum?« wiederholte der Mann. »Warum Ägyptisch, Arabisch, Abessinisch, Choktaw? Nun, welche Sprache spricht der Wind? Welcher Nation gehört ein Sturm an? Aus welchem Lande kommt der Regen? Welche Farbe hat ein Blitz? Wohin verrollt der Donner, wenn er erstirbt? Jungs, ihr müßt in jeder Sprache, in jedem Dialekt und auf jede erdenkliche Weise bereit sein, die Elmsfeuer zu bannen, die blauen Lichtkugeln, die wie fauchende Katzen dahinschleichen. Ich habe die einzigen Blitzableiter der Welt, die hören, fühlen und wissen, die jedes Gewitter, gleich welcher Sprache, Form und Erscheinungsweise, bezwingen. Kein fremder Donner kann seine Stimme so laut erheben, daß dieser Stab ihn nicht besänftigen würde.«

Aber Will blickte über den Mann hinweg. »In welches Haus wird's einschlagen?« fragte er. »In welches? Augenblick. Wartet.« Der Vertreter betrachtete aufmerksam, forschend ihre Gesichter. »Manche Leute ziehen Gewitter an. Sie saugen es förmlich ein wie Katzen den Atem neugeborener Babys. Manche Menschen sind negativ gepolt, andere positiv. Einige glimmen im Dunkeln. Andere gehen aus. Ihr beiden ...« Jim unterbrach ihn mit glitzernden Augen: »Woher wollen Sie eigentlich wissen, daß der Blitz überhaupt hier in der Nähe einschlagen wird?«

Der Vertreter zuckte ein wenig zurück. »Nun, ich hab' eine Nase dafür, ein Auge, ein Ohr. Diese beiden Häuser, die Balken - hört doch nur!«

Sie lauschten. Duckten sich die Häuser nicht ein wenig im Nachmittagswind? Vielleicht auch nicht.

»Blitze brauchen Kanäle, in denen sie fließen - wie Wasser. Eine von diesen Mansarden ist ein ausgetrocknetes Flußbett, in das im nächsten Augenblick der Blitz einbrechen kann. Heute abend.« »Heute abend?« Jim setzte sich erfreut auf. »Kein gewöhnliches Gewitter«, erklärte der Vertreter. »Laßt euch das von Tom Fury gesagt sein. - Fury! Wut, Zorn, Furien - ist das nicht ein toller Name für einen, der Blitzableiter verkauft? Hab' ich mir den Namen ausgesucht? Nein! Ob der Name an meinem Beruf schuld ist? Ja! Ich wuchs auf und sah umwölkte Feuer in die Erde schlagen, sah die Menschen rennen und sich verstecken. Da dachte ich: Zeichne sie auf, die Hurrikans, mach dir eine Karte der Gewitter, dann lauf vor ihnen her, schüttle deine eisernen Keulen, deine Wunderschilde! Ich hab' hunderttausend Häuser beschützt, ungezählten gottesfürchtigen Menschen sichere Heime geschaffen. Deshalb hört auf mich, Jungs, wenn ich euch sage: euch droht Unheil! Steigt auf das Dach, noch vor Einbruch der Nacht. Nagelt den Blitzableiter an die höchste Stelle und verankert die Leitung gut im Boden.«

»Aber welches Haus? Welches?« fragte Will. Der Vertreter ging ein paar Schritte zurück, schneuzte sich in ein großes Taschentuch und schlich dann langsam, vorsichtig, als nähere er sich einer tickenden Zeitbombe, über den Rasen. Er berührte einen Pfosten des Hauses, in dem Will wohnte, ließ die Hand über die Holzverkleidung gleiten und über ein Fußbodenbrett der Veranda. Dann schloß er die Augen und lehnte sich an das Haus, um sein Gerüst flüstern zu hören. Zögernd und tastend näherte er sich daraufhin Jims Heim. Jim erhob sich, um den Mann besser beobachten zu können. Der Vertreter streckte die Hand aus. Er berührte das Holz, streichelte es. Seine Fingerspitzen glitten vibrierend über die alte, abblätternde Farbe. »Das hier!« sagte er schließlich. »Das hier ist es!« - Ray Bradbury, Das Böse kommt auf leisen Sohlen. Hamburg u. a. 1969 (zuerst 1963)

litzableiter (2)  Ein Blitzableiter läßt sich ohne Schwierigkeit erklimmen, schon gar von einem Seemann; doch als er in Höhe des Fensters angelangt war, welches weit zu seiner Linken lag, war sein Weg auch schon zu Ende; eben noch vermochte er sich so weit hinüberzubeugen, daß er einen Blick ins Innere des Zimmers tun konnte. Bei diesem Anblick verlor er im Übermaß des Entsetzens fast den Halt. Denn eben jetzt geschah es, daß jene schauerlichen Schreie durch die Nacht gellten, welche die Anwohner der Rue Morgue aus dem Schlummer gerissen hatten. Madame L'Espanaye und ihre Tochter waren, in ihre Nachtgewänder gekleidet, offenbar im Begriff gestanden, einige Papiere in der bereits erwähnten eisernen Kassette zu ordnen, welche in die Mitte des Zimmers gerückt worden war. Sie stand offen, und ihr Inhalt lag daneben auf dem Boden. Die Opfer mußten mit dem Rücken zum Fenster gesessen haben; und nach der Zeit zu urteilen, die zwischen dem Eindringen des Tieres und den Schreien verstrich, wurde es wohl nicht unmittelbar bemerkt. Das Anschlagen des Ladens war natürlicher Weise dem Winde zugeschrieben worden.

Als der Matrose hineinblickte, hatte das riesige Tier Madame L'Espanaye beim Haar ergriffen (welches aufgelöst war, da sie beschäftigt gewesen, es zu kämmen) und schwang das Barbiermesser über ihrem Gesicht, in Nachahmung der Bewegungen eines Barbiers. Die Tochter lag bewegungslos hingestreckt; sie war ohnmächtig geworden. Das Schreien und Sträuben der alten Dame (während dessen ihr das Haar vom Kopfe gerissen wurde) hatte die Wirkung, die mutmaßlich friedlichen Absichten des Orang-Utan in solche wilden Grimms zu verwandeln. Mit einem entschiedenen Schwünge seines muskulösen Arms trennte er ihr den Kopf fast vom Rumpfe. Der Anblick des Blutes nun entflammte seine Wut bis zur Raserei. Die Zähne fletschend und mit Blitze sprühenden Augen warf er sich auf den Körper des Mädchens und grub seine gräßlichen Krallen In ihren Hals; und diesen Griff lockerte er nicht, bis sie entseelt war. In diesem Augenblick fielen seine wild wandernden Blicke auf das Kopfende des Bettes, über welchem das Gesicht seines Herrn, starr vor Entsetzen, eben erschienen war. Das Rasen des Tieres, das zweifellos noch die furchtbare Peitsche im Sinn trug, verkehrte sich augenblicklich in Furcht. Im Bewußtsein, Strafe verdient zu haben, schien es begierig, seine blutigen Taten zu verbergen, und sprang in heftig furchtsamer Erregung im Raum umher, indem es die Einrichtung niederriß und dabei zerbrach und das Pfühl von der Bettstatt zerrte. Zum Schlusse packte es erst den Leichnam der Tochter und stieß ihn in der Weise, wie er vorgefunden worden, hinauf in den Kamin; dann den der alten Dame, welchen er mit dem Kopf voran unmittelbar aus dem Fenster schleuderte.  - Edgar Allan Poe, Die Morde in der Rue Morgue. In: E. A. P., Werke I. Olten und Freiburg i. Br. 1966 (Übs. Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Hg. Kuno Schumann, Hans Dieter Müller)
 

Blitz
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