lindheit  »Übrigens, ist es schön hier?«
»Ich glaube, es ist der schönste Ort, den ich je gesehen habe.«
»Das sagen alle Leute. Ich kann es fühlen, natürlich, aber es ist doch nicht dasselbe.«
»So haben Sie nie -« begann ich, verstummte aber verlegen.
»Solange ich mich erinnern kann, nicht. Es geschah, als ich erst ein paar Monate alt war, hat man mir erzählt. Und doch muß ich irgendwelche Erinnerungen haben, wie könnte ich sonst von Farben träumen? Ich sehe in meinen Träumen Licht und Farben, aber ich sehe sie nie. Ich höre sie nur, genau so, wie wenn ich wach bin.«

»Es ist schwer, Gesichter im Traum zu sehen. Manche Menschen können es, aber den meisten von uns ist es nicht gegeben«, fuhr ich fort und blickte zu dem Fenster auf, wo das Kind ganz unverhohlen stand.

Sie sagte: »Ich habe das auch gehört. Und man hat mir erzählt, daß man nie das Gesicht eines Toten im Traum sieht. Ist das wahr?«
»Ich glaube ja, wenn ich mir es jetzt so recht überlege.«
»Aber wie ist es bei Ihnen - bei Ihnen selbst?« Die blinden Augen wandten sich zu mir.
»Ich habe niemals im Traum die Gesichter meiner Toten gesehen«, antwortete ich.
»Dann muß es ebenso arg sein wie blind zu sein.« - Rudyard Kipling, "Sie", nach (ki)

Blindheit (2)  Einer hat die Nacht sogar als die Blindheit Gottes definiert und hinzugefügt, wir dürften Gott nicht anders denn als Blindheit erfahren, sogar der Schöpfer selbst tappe mit seinen zahllosen Händen im leeren Weltall umher und suche uns, die er erschaffen hat, wie er sich erinnert, die ihm aber durch die Mithilfe der negativen Übernatur fortwährend entzogen werden, wie er uns entzogen wird; und vielleicht ist diese Blindheit Gottes etwas, das eines Kultes nicht unwürdig wäre, selbst wenn wir wissen, daß kein Kult, mit dem wir uns an diese Blindheit wenden, einen Sinn hat, aber da wir an Kulthandlungen gebunden sind, können wir sie diesem Monstrum, Spiegel, Negativum, Irrtum, unwissenden und bewußten Rätsel weihen, das da ist der Ort der Blindheit Gottes. - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997 (zuerst 1996)

Blindheit (3)  Der Blinde ist nicht von Hause aus blind, doch ist er's mit leichter Mühe geworden. Er hat eine Kamera, die hat er überall und es ist eine Lust für ihn, die Augen geschlossen zu halten. Es geht wie im Schlaf, er hat noch gar nichts gesehen und schon nimmt er's auf, denn dann, wenn es alles nebeneinanderliegt, gleich klein, gleich groß, immer viereckig, ordentlich, abgeschnitten, benannt, numeriert, bewiesen und vorgezeigt, dann sieht man's auf alle Fälle besser.

Der Blinde erspart sich die Anstrengung, etwas vorher gesehen zu haben. Er sammelt, was er gesehen hätte und stapelt es auf und freut sich daran, als wären es Briefmarken. Um der Kamera willen bereist er die Welt, nichts ist fern, nichts ist leuchtend, nichts absonderlich genug — er holt sich's für die Kamera. Er sagt: da war ich, und zeigt drauf und könnte er nicht drauf zeigen, er wüßte nicht, wo er war, die Welt ist verwirrend, exotisch und reich, wer soll sich das alles merken.

Der Blinde glaubt nichts, was nicht aufgenommen wurde. Leute schwatzen und prahlen und reden daher, sein Motto ist: heraus mit den Fotos! Da weiß man, was einer wirklich gesehen hat.  - (can)

Blindheit (4)

Blindheit (5)

DIE BLINDEN

Betrachte sie, o meine Seele; sie sind wahrlich gräßlich! den Gliederpuppen gleich; ein wenig lächerlich; schrecklich und wunderlich wie Schlafwandler; mit finstren Augenkugeln starrend, niemand weiß wohin.

Ihre Augen, denen der göttliche Funke entwich, bleiben, als blickten sie ins Weite, dem Himmel zugekehrt; nie sieht man sie versonnen das schwere Haupt zum Pflaster senken.

So wandern sie in grenzenloser Schwärze, dem Geschwister des ewigen Schweigens. O Stadt, indes du rings um uns singst und lachst und blökst,

Nach Lüsten gierig bis zur Greueltat, sieh, ich auch schleppe mich! doch stumpfer noch als jene spreche ich: Was suchen sie am Himmel, alle diese Blinden?


- Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen (zuerst 1857). Übs. Friedhelm Kemp Frankfurt am Main 1966 (Fischer Tb. 737)

Blindheit (6) Einer hat die substantielle Nacht sogar als die Blindheit Gottes definiert und hinzugefügt, wir dürften Gott nicht anders denn als Blindheit erfahren, sogar der Schöpfer selbst tappe mit seinen zahllosen Händen im leeren Weltall umher und suche uns, die er erschaffen hat, wie er sich erinnert, die ihm aber durch die Mithilfe der negativen Übernatur fortwährend entzogen werden, wie er uns entzogen wird; und vielleicht ist diese Blindheit Gottes etwas, das eines Kultes nicht unwürdig wäre, selbst wenn wir wissen, daß kein Kult, mit dem wir uns an diese Blindheit wenden, einen Sinn hat, aber da wir an Kulthandlungen gebunden sind, können wir sie diesem Monstrum, Spiegel, Negativurn, Irrtum, unwissenden und bewußten Rätsel weihen, das da ist der Ort der Blindheit Gottes.   - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997
 
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