lickfalle Die
Schwester erschien mir weder als eine aus der herzhaften
Schar der Schwachsinnigen noch der Verrückten. Sie war immer finster allein
gewesen, und ich hatte seit jeher vor ihr Scheu empfunden
und sie gemieden. Wenn ich ihren Blick bedachte, kam
er mir auch nicht verwirrt vor, wie man es mir eingeredet hatte, eher starr;
nicht leer, eher klar; nicht versunken, sondern allezeit gegenwärtig. Ich wurde
von diesen Augen ständig gemessen, und die Messung fiel keinmal zu meinen Gunsten
aus. Dabei zeigte das Gerät (und als solches sah ich den reglosen Blick) nicht
meine jeweiligen Fehler oder Schurkereien an, vielmehr das Grundübel: Ich verstellte
mich; ich war nicht der, als der ich mich gab; ich war nicht echt, ich war gar
nicht, ich spielte. Und es war mit ihr auch wirklich nie gut sein; was immer
ich tat - und wenn ich nur so oder so dreinschaute -: ich hatte das Gefühl,
ihr wie mir selbst etwas vorzumachen, noch dazu falsch und schlecht. Anfangs
hatte sie mich wenigstens dann und wann mit ihrem fast mitleidigen Kichern ausgelacht,
später blieb sie nach dergleichen vernichtenden Prüfmomenten bloß schadenfroh
stumm. So ging ich ihr, wo möglich, aus dem Weg (freilich stand sie dann vielleicht
unerwartet auf der Galerie und hatte da ihre Blickfalle aufgestellt).
- Peter Handke, Die Wiederholung. Frankfurt am Main
1992 (zuerst 1986)
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