lick, springender

Oben und unten

M. C. Escher, "Oben und unten"  (1947)

Wer rechts unten die Kellertreppe heraufkommt, kennt seinen Ausgangspunkt noch nicht. Aber er wird kaum zögern: Es ist als ob er nach oben geworfen würde, entlang den gekrümmten Linien der Pfeiler und der Palmbäume, gegen den dunklen gekachelten Fußboden in der Mitte des Bildes. Aber sein Blick kann dort nicht verweilen; von selbst springt er weiter entlang den Pfeilern nach oben und schwingt sich wahrscheinlich nach links oben, durch den Torbogen mit seinen abwechselnd hellen und dunklen Blöcken.

Dasselbe Springen des Blicks ergibt sich, wenn wir dem Bild von oben nach unten zu folgen trachten. Zunächst können wir nicht mehr tun, als auf und ab zu springen in dieser fremden Welt, bei der die Hauptlinien aus dem Zentrum herausschwingen und sich dort wieder hineinstürzen - so wie die Blätter des Palmbaums, der zweimal auf dem Bild vorkommt. Wer es in Ruhe studieren will, bedeckt am besten die obere Hälfte mit einem Blatt Papier. Wir stehen dann zwischen einem Turm (rechts) und einem Haus. Das Haus ist oben durch zwei Arkaden mit dem Turm verbunden, und wenn es uns gelingt, geradeaus zu schauen, überblicken wir einen friedlichen sonnigen Platz, der irgendwo in Unteritalien liegen könnte.

Links können wir über zwei Treppen das erste Stockwerk erreichen, wo ein Mädchen aus dem Fenster herunterschaut und mit dem Jungen auf der Treppe spricht. Das Haus scheint an der Ecke einer Straße zu stehen und links mit einem anderen Haus, außerhalb des Bildes, verbunden zu sein.

Oben in der Mitte des nicht verdeckten Teils des Bildes sehen wir eine gekachelte Decke; diese befindet sich gerade über uns, und ihr Mittelpunkt ist unser Zenit. Alle steigenden Linien biegen sich einwärts diesem Punkt zu.

Verschieben wir nun das Abdeckblatt so, daß nur die obere Bildhälfte sichtbar ist,  dann bekommen wir wieder genau das gleiche Bild zu sehen: den Platz, die Palme, das Eckhaus, den Jungen und das Mädchen, die Treppen und den Turm.

So sehr unser Blick zuerst nach oben gezogen wurde, so sehr wird er nun nach unten gezogen. Es ist, als ob wir aus einer großen Höhe auf die Szene heruntersehen. Der gekachelte Boden am unteren Rand des sichtbaren Bildteils ist nun ein gekachelter Boden. Der Mittelpunkt befindet sich direkt unter uns. Was erst die Decke war, ist nun Boden: Der Zenit ist Nadir geworden und\ dient allen abwärtslaufenden Linien als Fluchtpunkt. Nun können wir auch deutlich sehen, von wo aus wir in das Bild eintraten: aus der Tür; die in den Turm führt.

Jetzt können wir das Papier wegnehmen und die ganze Zeichnung anschauen. Der gekachelte Boden (Decke) kommt dreimal vor: unten als Boden, oben als Decke und in der Mitte als beides: Boden und Decke. Wir können nun auch den Turm rechts als Ganzes betrachten, dann wird hier die Spannung zwischen oben und unten am größten. Ein wenig über der Mitte sitzt ein Fenster im Turm und gleich daneben, ein wenig unterhalb der Mitte ist ein gleiches Fenster um 180 Grad gedreht dargestellt. Der Eckraum an dieser Stelle bekommt dadurch einige sehr ungewöhnliche Eigenschaften. Durch diesen Raum muß eine Diagonale laufen, die nicht ohne Gefahr überschritten werden kann, denn auf dieser Diagonale wechseln Oben und Unten, Boden und Decke ihren Platz. Wer meint, daß er senkrecht auf dem Boden stünde, braucht nur einen Fuß über diese Diagonale zu setzen, um plötzlich von der Decke herabzuhängen. Escher hat das Geschehen in dem Innenraum nicht gezeichnet, aber er suggeriert es mittels der zwei Eckfenster.

In der Mitte des Bildes ist noch mehr zu erleben. Man gehe die Stufen abwärts zum Eingang des Turmes; wenn diese Treppe innen fortgesetzt wird, dann läuft man verkehrt herum zur Spitze des Turms. Nach dieser Entdeckung wird man ohne Zweifel eilig umkehren, um aufrecht nach oben zu gehen. Schaut man aus dem oberen Fenster des Turms, sieht man dann auf die Dächer der Häuser in der unteren Hälfte oder auf die Unterseite des Platzes? Ist man hoch oben in der Luft oder kriecht man irgendwo unter dem Boden?

Auch links oben an der Treppe, auf der der Junge sitzt, ist ein Standpunkt, von welchem aus man schrecklich schwindlig wird. Man kann nicht allein zum gekachelten Boden im Zentrum heruntergucken, sondern nur ganz herunter, auf den untersten Kachelboden. Hängt oder steht man? - Bruno Ernst, Der Zauberspiegel des M. C. Escher. München 1985 (dtv 2879, zuerst 1978)

 

Blick Blickrichtung Perspektivenwechsel Springen

 

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