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(
freud
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Blamage (2) Er saß in einem riesigen Hörsaal,
eingezwängt in eine schmale Bank. Der Deckel des Pultes vor ihm drückte ihn
schmerzhaft auf den Magen, er konnte die Beine nicht strecken. Die Luft im Raum
war stickig, er konnte nicht recht atmen. Vor einer schwarzen Wandtafel ging
ein Mann in weißem Mantel ratlos auf und ab. Kr sprach. Und auf die Wandtafel
war mit Kreide ein riesiger Daumenabdruck gezeichnet. Die Linien darin bildeten
verrückte Muster, Schleifen, Spiralen, Berge, Täler, Wellen. Gerade Striche
waren von den einzelnen Linien aus gezogen, ragten über den Abdruck hinaus und
trugen an ihrem Ende Nummern. Und der Mann, der vor der Tafel hin und her lief,
zeigte auf die Nummern und dozierte: »Von der Wiege bis zum Grabe bleiben die
Kapillaren identisch, merken Sie sich das, meine Herren, und wenn zwölf Punkte
übereinstimmen, so haben Sie den mathematischen Beweis. Dies ist der Daumen,
meine Herren, der Daumenabdruck eines Mannes, der durch die Unachtsamkeit eines
Beamten verlorengegangen ist und den ich nach meiner neuen Methode des fernen
Wellensehens zur restitutio ad integrum gebracht habe. Der Schuldige sitzt zwischen
Ihnen, ich will ihn nicht nennen, denn er ist gestraft genug. Kr wird in Pension
gehen müssen und in seinem Lebensalter verhungern, denn er hat pflichtvergessen
gehandelt. Denn dieser Daumen, meine Herren und Damen
...« In der ersten Bankreihe saß Sonja Witschi, sie trug ein weißes Kleid und
blickte mit Verachtung auf Studer. Das schmerzte Studer sehr. Am meisten aber
tat ihm weh, daß der Gemeindepräsident Aeschbacher neben Sonja saß und seinen
Arm um die Schultern des Mädchens gelegt hatte. Studer wollte sich unter der
Bank verstecken, er fühlte, daß die Blicke aller Zuhörer auf ihn gerichtet waren,
er konnte nicht, die Bank war zu eng . . . Da stand plötzlich in der Tür des
Saales der Polizeihauptmann und sagte laut: »Hast dich wieder blamiert, Studer?
Komm her, komm sofort her. ..« Studer zwängte sich aus der Bank, Sonja und Aeschbacher
lachten ihn aus, der Herr im weißen Mantel war plötzlich der Lehrer Schwomm,
und er sang: »Das ist die Liebe, die dumme Liebe .. .« Aeschbacher hatte noch
immer seinen Daumen aufgereckt, der wuchs und wuchs, schließlich war er so groß
wie die Zeichnung auf der Tafel .. . »Poroskopie«, rief Lehrer Schwomm im Arztkittel,
»Daktyloskopie!« schrie er. Und am Fenster stand der Kommissär Madelin, sah
böse drein und fluchte: »Haben Sie Locard vergessen, Stüdère, fünfzehn und sechs
und sechs und elf Punkte, das war zur Überführung genügend im Falle Desvignes.
Und im Falle Witschi? . .. Alles vergessen, Stüdère? Schämen Sie sich.« Der
Polizeihauptmann aber zog ein Paar Handschellen aus der Tasche und fesselte
Studer. Dazu sagte er: »Aber ich zahl' dir keinen Halben Holen im Bahnhofbuffet.
Ich nicht!« Studer weinte, er weinte wie ein kleines Kind, die Nase stach ihm,
er torkelte hinter dem Polizeihauptmann her. Auf dem Rük-ken des Mannes, ganz
nah vor Studers Augen, hing eine weiße Tafel. Darauf war wieder der Daumenabdruck.
Und darunter stand in dicker Rundschrift: »Keine Tannennadeln, aber ein verlorengegangener
Abdruck .. .« Dann saß Studer in einer Zelle, zwei Betten waren darin. Auf dem
einen lag der Schlumpf, eine blaue Zunge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt
den Daumen der Rechten aufgereckt und blinzelte mit den Lidern. Er erhob sich,
immer noch hing die Zunge aus seinem Mund, er schritt
auf Studer zu, stand vor ihm und wollte ihm den Daumen ins Auge stoßen. Studer
war gefesselt, er konnte sich nicht wehren, er schrie. - Friedrich
Glauser, Wachtmeister Studer. In: F. G.: Kriminalromane. Berlin 1990 (zuerst
ca. 1936)
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