lamage  Ohne Analyse, nur vermittels einer Vermutung, gestattete ich mir ein kleines Vorkommnis bei einem Freunde zu deuten, der durch die acht Gymnasialklassen mein Kollege gewesen war. Er hörte einmal in einem kleinen Kreise einen Vortrag von mir über die Neuigkeit, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei, ging nach Hause, träumte, daß er alle seine Prozesse verloren habe - er war Advokat -, und beklagte sich bei mir darüber. Ich half mir mit der Ausflucht: Man kann nicht alle Prozesse gewinnen, dachte aber bei mir: Wenn ich durch acht Jahre als Primus in der ersten Bank gesessen, während er irgendwo in der Mitte der Klasse den Platz gewechselt, sollte ihm aus diesen Knabenjahren der Wunsch ferne geblieben sein, daß ich mich auch einmal gründlich blamieren möge? - (freud)

Blamage  (2)  Er saß in einem riesigen Hörsaal, eingezwängt in eine schmale Bank. Der Deckel des Pultes vor ihm drückte ihn schmerzhaft auf den Magen, er konnte die Beine nicht strecken. Die Luft im Raum war stickig, er konnte nicht recht atmen. Vor einer schwarzen Wandtafel ging ein Mann in weißem Mantel ratlos auf und ab. Kr sprach. Und auf die Wandtafel war mit Kreide ein riesiger Daumenabdruck gezeichnet. Die Linien darin bildeten verrückte Muster, Schleifen, Spiralen, Berge, Täler, Wellen. Gerade Striche waren von den einzelnen Linien aus gezogen, ragten über den Abdruck hinaus und trugen an ihrem Ende Nummern. Und der Mann, der vor der Tafel hin und her lief, zeigte auf die Nummern und dozierte: »Von der Wiege bis zum Grabe bleiben die Kapillaren identisch, merken Sie sich das, meine Herren, und wenn zwölf Punkte übereinstimmen, so haben Sie den mathematischen Beweis. Dies ist der Daumen, meine Herren, der Daumenabdruck eines Mannes, der durch die Unachtsamkeit eines Beamten verlorengegangen ist und den ich nach meiner neuen Methode des fernen Wellensehens zur restitutio ad integrum gebracht habe. Der Schuldige sitzt zwischen Ihnen, ich will ihn nicht nennen, denn er ist gestraft genug. Kr wird in Pension gehen müssen und in seinem Lebensalter verhungern, denn er hat pflichtvergessen gehandelt. Denn dieser Daumen, meine Herren und Damen ...« In der ersten Bankreihe saß Sonja Witschi, sie trug ein weißes Kleid und blickte mit Verachtung auf Studer. Das schmerzte Studer sehr. Am meisten aber tat ihm weh, daß der Gemeindepräsident Aeschbacher neben Sonja saß und seinen Arm um die Schultern des Mädchens gelegt hatte. Studer wollte sich unter der Bank verstecken, er fühlte, daß die Blicke aller Zuhörer auf ihn gerichtet waren, er konnte nicht, die Bank war zu eng . . . Da stand plötzlich in der Tür des Saales der Polizeihauptmann und sagte laut: »Hast dich wieder blamiert, Studer? Komm her, komm sofort her. ..« Studer zwängte sich aus der Bank, Sonja und Aeschbacher lachten ihn aus, der Herr im weißen Mantel war plötzlich der Lehrer Schwomm, und er sang: »Das ist die Liebe, die dumme Liebe .. .« Aeschbacher hatte noch immer seinen Daumen aufgereckt, der wuchs und wuchs, schließlich war er so groß wie die Zeichnung auf der Tafel .. . »Poroskopie«, rief Lehrer Schwomm im Arztkittel, »Daktyloskopie!« schrie er. Und am Fenster stand der Kommissär Madelin, sah böse drein und fluchte: »Haben Sie Locard vergessen, Stüdère, fünfzehn und sechs und sechs und elf Punkte, das war zur Überführung genügend im Falle Desvignes. Und im Falle Witschi? . .. Alles vergessen, Stüdère? Schämen Sie sich.« Der Polizeihauptmann aber zog ein Paar Handschellen aus der Tasche und fesselte Studer. Dazu sagte er: »Aber ich zahl' dir keinen Halben Holen im Bahnhofbuffet. Ich nicht!« Studer weinte, er weinte wie ein kleines Kind, die Nase stach ihm, er torkelte hinter dem Polizeihauptmann her. Auf dem Rük-ken des Mannes, ganz nah vor Studers Augen, hing eine weiße Tafel. Darauf war wieder der Daumenabdruck. Und darunter stand in dicker Rundschrift: »Keine Tannennadeln, aber ein verlorengegangener Abdruck .. .« Dann saß Studer in einer Zelle, zwei Betten waren darin. Auf dem einen lag der Schlumpf, eine blaue Zunge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt den Daumen der Rechten aufgereckt und blinzelte mit den Lidern. Er erhob sich, immer noch hing die Zunge aus seinem Mund, er schritt auf Studer zu, stand vor ihm und wollte ihm den Daumen ins Auge stoßen. Studer war gefesselt, er konnte sich nicht wehren, er schrie.  - Friedrich Glauser, Wachtmeister Studer. In: F. G.: Kriminalromane. Berlin 1990 (zuerst ca. 1936)

Blamage (2)
 

Enthüllung  Schande

 

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