Birnbaum  Die Jahre zogen ins Land, und Tante Elend war nun schon über neunzig.

Eines Tages klopfte eine Gestalt bei ihr an, die gleichzeitig Mann und Frau zu sein schien, in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt und mit einer Sense über der Schulter, und sprach zu Tante Elend:

»Komm, Elend, deine Stunde ist gekommen.«

Sofort erkannte Tante Elend den Tod. Da begann sie, sich zu beklagen:

»Also, so was! Gerade mal ein paar ruhige Jährchen habe ich verbringen dürfen und hatte mich gerade mit meinen bescheidenen Habseligkeiten eingerichtet, und jetzt soll ich dich schon begleiten. Ich will aber noch nicht sterben.«

Hartnäckig stritt Tante Elend mit dem Tod, aber schließlich sah sie ein, daß sie ihm nicht entkommen konnte, und so sprach sie zu ihm:

»Nun gut, wenn's denn sein muß, dann komme ich eben mit. Ich mache mich nur noch zurecht, bitte sei doch so gut und pflücke einstweilen die vier Birnen, die noch am Baum hängen, als Wegzehrung für die Reise.«

Der Tod tat ihr den Gefallen und kletterte auf den Baum, um die Birnen zu pflücken. Doch als er wieder hinuntersteigen wollte, da gelang es ihm nicht: Er blieb oben hängen. So sehr er sich auch anstrengte, es half nichts, er kam nicht hinunter. Tante Elend, die ihn von ihrem Fensterchen aus beobachtet hatte, rief:

»Du bleibst, wo du bist, und ich bleibe, wo ich bin, denn ohne meine Erlaubnis kommst du nicht runter.«

So vergingen etliche Jahre, und allmählich begann die Welt die Abwesenheit des Todes zu spüren, denn niemand starb mehr. Die Alten wurden immer älter,  aber niemand fand sein Ende. Nicht einmal im Krieg starben die Leute. Wer verzweifelt Hand an sich legte, verletzte sich nur. Zahllose Kranke flehten die Ärzte an, ihr Leben zu beenden, und die Ärzte wurden der Massen nicht mehr Herr und suchten nach einem Weg, die Leute sterben zu lassen. Die Verzweiflung wuchs und wuchs, unzählige Menschen haßten das Leben und wollten sich seiner entledigen. Aber es half nichts, denn der Tod hing in Tante Elends Birnbaum.

Am verzweifeltsten waren die Ärzte, und sie ließen die Botschaft untereinander verbreiten, daß sie den Tod aufspüren wollten, wo immer er auch stecke. In jedem Winkel der Welt wollten sie ihn suchen, jeder in seinem Umkreis, so unbedeutend der Ort auch sein mochte. Einer von ihnen kam schließlich auch bei der Hütte von Tante Elend vorbei. Als der Tod ihn sah, rief er ihn an:

»He du, Arzt!« Der Arzt erkannte ihn sofort:

»Na endlich treffe ich dich, mein lieber Freund!« rief er außer sich vor Freude, denn dem Arzt waren schon viele Leute gestorben, und der Tod war ihm ein alter Bekannter. »Weißt du denn nicht, daß wir dich schon überall auf der Welt gesucht haben?«

»Dann hol mich endlich runter, ich sitze auf dem Birnbaum fest.«

Der Arzt kletterte kurz entschlossen hinauf, um dem Tod herunterzuhelfen, und saß ebenfalls in den Zweigen fest. So hockte er tagelang neben dem Tod, bis seine Angehörigen, die in der Nähe wohnten, sich auf die Suche nach ihm machten, in dem Glauben, er habe sich im Wald verirrt, und ihn schließlich im Baum hängen sahen. Sie riefen die Dorfbewohner und den Bürgermeister herbei, die alle mit ihren Äxten anrückten, um den Birnbaum zu fällen. Doch da schoß Tante Elend heraus und schrie: »Fällt mir ja nicht meinen Birnbaum, er ist mir das Liebste auf der Welt!«

Doch die anderen erwiderten: »Aber wir müssen ihn fällen, um den Tod zu befreien, denn die Kranken, die Alten, die Verwundeten, alle auf der Welt halten das Leiden nicht mehr aus.«

Tante Elend erklärte: »Selbst wenn ihr den Birnbaum fällt, er wird doch niemanden freilassen, der in ihm gefangen sitzt. Aber unter einer Bedingung lasse ich den Tod ziehen.«

»Unter welcher?« fragte der Tod.

»Daß du weder mich noch meinen Sohn Fastenhans holen kommst, bis ich dich dreimal rufe«, antwortete Tante Elend.

»Einverstanden«, entgegnete der Tod. Und da ließ Tante Elend ihn ziehen.

Kaum war der Tod frei, da machte er sich mit seiner Sense daran, fleißig Leben zu mähen. Die Leute begannen wieder allerorten zu sterben, Tausende und Abertausende fanden den Tod, Alte, Kranke, Verwundete, und es gab mehr Kriege denn je. Nach all den Jahren kam der Tod kaum mehr mit der Arbeit hinterher, denn unendlich viele suchten ihn, und von früh bis spät mußte er ohne Rast einen jeden empfangen. Er schnitt so viele Leben wie nie zuvor.

Währenddessen lebte Tante Elend weiter ruhig und friedlich in ihrer Hütte mit ihrem Birnbaum, ihrem Strohsack, ihrem Stuhl, ihrem Korb und ihrem Hund. So viele Jahre auch vergingen, sie bettelte um Almosen und verkaufte zur Birnenzeit ihre Früchte. Und dort wohnt sie noch, denn da Tante Elend den Tod nicht gerufen hat, lebt sie immer noch auf dieser Welt. Sie und ihr Sohn, der Hungerleider, werden immer so weiterleben, denn sie haben nicht die geringste Lust, jemals den Tod zu rufen.  - Spanische Hunger- und  Zaubermärchen.  Hg. José Maria Guelbenzu.  Frankfurt am Main  2000  (Die Andere Bibliothek 183)

 

Baum

 

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