Bildempfang  Während sie am Morgen duschte (lange, lange), sich anzog (gemächlich, eins nach dem andern), aus dem offenen Südfenster schaute (von ihren Fingerspitzen über das ganze, hinten sich schon wieder wegwölbende Tafelland), schossen noch und noch weitere Bilder in sie ein, oder streiften sie bloß so; keine Marter- und Drohbilder mehr. Es waren jene Bilder, von denen sie dachte, daß ein einziges von ihnen genügte, und sie - und nicht nur sie, jedermann (siehe ihr Sendungsbewußtsein) - sei damit gerüstet, selbst durch den beengtesten Tag zu kommen.

Und wieder bedachte sie die Bedingungen oder Gesetze dafür, daß so ein Bild sich einem beigesellte. Die Entstehung, der Ursprung, die Quelle derartiger Bilder mußte endlich erforscht werden; ein Müssen, das einen umso freier machte; wie sie überhaupt ein jedes Mal, da sie »ich muß«, »man muß« sagte, zugleich ein leichtes, sie wie umschwebendes Lächeln zeigte. Jedenfalls mußte sie, mußte man für den Bildempfang bei der gerade aktuellen Sache bleiben, was immer die war (siehe Duschen, siehe aus dem Fenster Schauen). Und weder wurde dafür eine besondere Verlangsamung oder gar Beschleunigung der gegenwärtigen Tätigkeit verlangt: ob gemächlich oder schnell - entscheidend war, einbezogen zu sein.

Ebenso ohne Belang waren Nähe und Ferne; der rechte Abstand nur gab, oder oszillierte, das Bild, und so ein rechter Abstand konnte auch der zu Faden und Nadelöhr sein, kaum eine Handbreit vor dem Auge: eine Biegung zum Beispiel des Bidassoa erschien, des Grenzflusses im Baskenland - Bild, Ruck in die Welt, Ruck, einem jeden so notwendiger, in die Wirklichkeit.

Noch so eine Art von Gesetz des Bild-Werdens: es geschah - und wieder war sie gewiß, bei jedermann - insbesondere am Morgen, in der Stunde nach dem Erwachen.  - Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002

 

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