Bildbeschreibung (2)
(Hans Holbein d. J.,mit vergr. Ausschnitt)
Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt.
Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme
von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese
Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf
Rogoshins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in vollem
Maße der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das
Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen
erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von Seiten der Wache und des Volkes,
und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (so lange dauerte sie nach
meiner Berechnung mindestens). Es ist wirklich das Gesicht eines soeben vom
Kreuz abgenommenen Menschen, das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme,
es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer
ein Ausdruck des Schmerzes liegt, als empfände er ihn noch jetzt (dies hat der
Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung
dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte wahrhaftig der Leichnam eines Menschen,
wer er auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche
Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus
nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe und daß folglich sein Körper
am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild
ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von
schrecklichen, blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die Augen stehen weit
offen, die Pupillen schielen, die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen
toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam
eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante
Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten,
und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuze gestanden hatten,
und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese
alle einen solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen):
wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde?
Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die
Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie
überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten
der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief:
›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und
der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur
als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger,
wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine
neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare
Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert
war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht
einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm
erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht,
der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich
dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von
denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der
mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die
entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten
Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen,
die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister
selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte
er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen
und den Tod erlitten? - (Aus: Der Idiot von Fjodor M. Dostojewski,
übersetzt von Hermann Röhl, Aufbau Verlag, Berlin 1958)
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Jochen Sander meint sogar, an Holbeins totem Christus selbst Zeichen für
dessen bevorstehende Auferstehung zu erkennen:
„Der Oberkörper scheint sich emporzuwölben, die Muskeln und Sehnen von Armen
und Beinen wirken angespannt, der grausige Kopf mit den verdrehten Augen und
dem klaffenden Mund vermittelt durch die leichte Wendung zum Betrachter und
die über die Nischenfront herabfallenden Haarsträhnen auf paradoxe Weise den
Eindruck von Bewegung. Gleiches gilt für die Rechte, die gleichfalls über die
Nischenkante herüberzugreifen scheint, und deren ausgestreckter Mittelfinger
das dünne Leichentuch nach vorne geschoben hat. Bewegungsspuren finden sich
auch sonst an dem weißen Tuch: Auf Höhe des Oberarms ist es etwas zurückgerafft
und gibt daher - und nur an dieser Stelle - den Blick auf die steinerne Nischenfront
frei. Etwas zusammengeschoben ist es auch unter der Ferse des rechten Fußes.
Sind diese Faltenbildungen zunächst als Spuren des Hineinschiebens des Leichnams
in die schmale, mit dem Tuch ausgelegte Grabnische zu verstehen, so wirken sie
zusammen mit der beschriebenen Gestaltung des Körpers doch zugleich wie Hinweise
auf eine rätselhafte Belebung des Toten“ (Sander 2005, S. 132). Auch wenn Kopf,
Hände und Füße grünlich verfärbt seien, erinnere die Hautfarbe, so Sander, dennoch
eher an einen Lebenden als an einen Toten. -
Beide Zitate nach: http://syndrome-de-stendhal.blogspot.de
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