Bierhalle   In der Schule hat der Brenner einmal am Tag der offenen Tür die Puntigamer Brauerei besichtigt. Natürlich Freibier, und dieser erste Vollrausch seines Lebens war so fürchterlich, daß es auch sein letzter geblieben ist. Bei der Besichtigung war er aber noch nüchtern, und da sind sie in eine riesige Halle geführt worden, so groß wie ein Hallenbad und alles verfliest. Aber kein Schwimmbecken, sondern eine Badewanne neben der anderen, weil da lagert das Bier, bis es reif ist. Und wie der Brenner damals in diese kühle Bierhalle gekommen ist, war sein erster Gedanke: So stelle ich mir eine Leichenwäscherei vor.

Und war kein schlechter Gedanke für einen Fünfzehnjährigen! Hier war zwar im einzelnen alles anders: nur zwei Badewannen, und dafür die Kühlschrankwand und die Tische und die Rollbahren mit den Leichen drauf, aber der Gesamteindruck trotzdem sehr ähnlich. Und sogar der junge Arbeiter im weißen Kittel hat den Brenner jetzt an den Puntigamer Brauingenieur erinnert, der damals die Führung gemacht hat.

Er ist aber kein Leichenwäscher gewesen, sondern Spezialaufgabe. Weil in so einem riesigen Krankenhaus wie dem AKH fallen natürlich viele amputierte Gliedmaßen an, und die müssen entsorgt werden. Der Embryo kommt in die Hautcreme, der hat eine Wiederverwendung, aber zum Beispiel ein Raucherbein hat keine Wiederverwendung. Und das kann man nicht einfach in die Mülltonne werfen.

«Guten Tag, womit kann ich dienen?» hat der junge Mann höflich gefragt, aber ohne aufzuschauen, weil es hat ihn gerade ein bißchen mit dem Bein gefuxt, das fast zu lang für den Ofen war. «Die Kollegen sind gerade alle auf Mittagspause.»

Der Brenner hat sich so gewundert, daß hier so ein junger, intelligenter Mensch arbeitet, daß ihm fast seine Frage nicht mehr eingefallen wäre. «Ich suche meinen Kollegen.»

Der Arbeiter hat die Ofentür hinter dem Bein zugemacht und sich zum Brenner umgedreht: «Hier ist er nicht dabei?» hat er auf die fünf, sechs Leichen gedeutet, die offen herumgelegen sind.

«Mein Kollege ist nicht tot», hat der Brenner gesagt. Aber vollkommen sicher kann er sich in dem Moment auch nicht mehr gewesen sein, sonst hätte er nicht doch vorsichtshalber einen Blick auf die Leichen geworfen.

«Dann sind Sie hier falsch», hat der Junge gelächelt. Er hat so ein intelligentes Gesicht gehabt, daß der Brenner gedacht hat: wahrscheinlich ein Student oder ein Perverser.

«Sie sehen doch da auf den Parkplatz hinaus», hat der Brenner angesetzt. Weil da hat die Rosi recht gehabt, das waren die reinsten Panoramafenster auf den Rettungsparkplatz hinaus.

«Selten. Herinnen ist es viel interessanter», hat der Junge gegrinst.

Vielleicht doch kein Student, ist es dem Brenner durch den Kopf gegangen.

«Ist Ihnen vielleicht trotzdem in der letzten halben Stunde irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen da draußen?»

«Etwas Ungewöhnliches auf dem Rettungsparkplatz? Sie meinen, ein Rettungsfahrer ohne Sonnenbrille oder ohne Schnurrbart?»

«Ein Rettungsfahrer ohne Schnurrbart, aber mit Sonnenbrille, fast zwei Meter groß und so dünn wie eine Micky Maus.»

«Das ist Ihr Kollege?»

«Genau. Und er ist mir da draußen abhanden gekommen.»

«Der ist mir nicht aufgefallen. Und er hätte mir auch gar nicht auffallen können. Weil nämlich ein Lastauto die längste Zeit vor dem Fenster gestanden ist.»

«Seit wann dürfen da draußen Lastautos parken?»

«Das hab ich mich auch gefragt», hat der Junge gesagt, und dann hat es bei seinem Ofen geklingelt, ungefähr so, wie es bei den Mikrowellen klingelt, und er hat die Tür aufgemacht und das nächste Bein hineingestopft.    - Wolf Haas: Komm, süßer Tod. Reinbek bei Hamburg 2018

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