iederkeit    Eckermann war eine kräftige Erscheinung, eher klein als groß, von ungewöhnlicher Breite und energischen Bewegungen, die eine bedeutende Muskelkraft verrieten. Sein stets glatt rasiertes Gesicht hatte jenen eigentümlichen kühnen Ausdruck, wie man ihn im nordwestlichen Deutschland so häufig findet, und wie er namentlich den Seeleuten oft eigen ist. Seine Stirn war breit und klug, und wenn auch die kräftige, gebogene Nase und die scharfen hellen Augen an einen Raubvogel erinnerten, eine Eigentümlichkeit, die vielleicht auf einer Art Anpassung an diese seine Lieblinge beruhte, so war doch im Mund und grade in den Augen jener offene, ehrliche und zugleich wohlwollende Zug und Ausdruck, der mit keinem deutschen Wort besser und schöner als mit 'bieder' bezeichnet werden kann. Glattes, ziemlich langes Haar, das ich nur stark grau meliert kenne, das aber in jüngern Jahren blond gewesen sein mochte, deckte ohne Spur eines Defizits den runden Kopf. - William Marshall, nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 1976 (dtv, Nachw. Ernst Beutler, zuerst 1834)

Biederkeit (2)   Links von Ihm war die Wand aus Glas, das auf einer grauen Materie lag, in die nackte Gestalten, tanzende Frauen und Männer, geritzt waren, rein linear und doch plastisch; und von der rechten grüngrauen Wand hing wie ein Flügel zwischen Tür und Vorhang Rembrandts Anatomie in den Raum hinein, scheinbar sinnlos und doch berechnet, eine Zusammenstellung, die dem Raum etwas Frivoles gab, um so mehr, als über der Türe, in der die Schwester stand, ein schwarzes, rohes Holzkreuz hing.

»Nun, Schwester«, sagte er, noch immer verwunden, daß sich das Zimmer durch die Beleuchtung so verändert hatte; denn ihm war vorher nur der Vorhang aufgefallen, und von den tanzenden Frauen und Männern, von der Anatomie und vom Kreuz hatte er nichts gesehen; doch nun auch von Besorgnis erfüllt, die ihm diese unbekannte Welt einflößte: »Nun, Schwester, das ist ein merkwürdiges Zimmer für ein Spital, das doch die Leure gesund machen soll und nicht verrückt.«

»Wir sind auf dem Sonnenstein«, antwortete die Schwester Klan und faltete die Hände über dem Bauch. »Wir gehen auf alle Wünsche ein«, schwatzte sie, leuchtend vor Biederkeit, »auf die frömmsten und auf die ändern. Ehrenwort, wenn Ihnen die Anatomie nicht paßt, bitte, Sie können die Geburt der Venus von Botticelli haben oder einen Picasso.«

»Dann schon lieber Ritter, Tod und Teufel«, sagte der Kommissär.

Schwester Kläri zog ein Notizbuch hervor. »Ritter, Tod und Teufel«, notierte sie. »Das wird morgen montiert. Ein schönes Bild für ein Sterbezimmer. Ich gratuliere. Der Herr haben einen guten Geschmack.«

»Ich denke«, antwortete der Alte, über die Grobheit dieser Schwester Kläri erstaunt, »ich denke, so weit ist es mit mir wohl noch nicht.«

Schwester Kläri wackelte bedächtig mit ihrem roten fleischigen Kopf. »Doch«, sagte sie energisch. »Hier wird nur gestorben. Ausschließlich. Ich habe noch niemanden gesehen, der die Abteilung drei verlassen hätte. Und Sie sind auf der Abteilung drei, da läßt sich nichts dagegen machen. Jeder muß einmal sterben. Lesen Sie, was ich darüber geschrieben habe. Es ist in der Druckerei Liechti in Walkringen erschienen.«

Die Schwester zog aus ihrem Busen ein kleines Traktätchen, das sie dem Alten auf das Bett legte: »Kläri Glauber: Der Tod, das Ziel und der Zweck unseres Lebenswandels. Ein praktischer Leitfaden.«  - Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. [Mit: Der Richter und sein Henker] Zürich 1978

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