ewußtsein,
minerales
Felipe kniet in der Sonne und verrichtet seine mittägliche Andacht,
die der lebendigen Wesenheit eines bestimmten Felsens in der Einöde von La Rioja,
an der Ostflanke der Anden, gewidmet ist. Nach einer argentinischen Legende
aus dem vergangenen Jahrhundert folgte Maria Antonia Correa, ihr neugeborenes
Kind im Arm, ihrem Geliebten in dieses öde Land. Hirten fanden sie eine Woche
später, tot. Doch der Säugling lebte: er hatte sich von Milch aus ihrem Leichnam
ernährt. Die Felsen am Schauplatz des Wunders sind seither das Ziel jährlicher
Wallfahrten gewesen. Doch Felipes spezieller Stein verkörpert, neben dem Wunder,
auch ein intellektuelles System. Felipe glaubt (wie M. F. Beal und andere)
an die Existenz eines mineralen Bewußtseins, das sich von dem der Pflanzen und
Tiere im wesentlichen nur durch sein anderes Zeitempfinden unterscheidet. Die
Zeitskala der Steine sieht erheblich gedehnter aus. «Wir sprechen von Einzelbildern
pro Jahrhundert», Felipe macht, wie alle hier, neuerdings gern Anleihen bei
der Filmtechnologie, «ja, pro Jahrtausend!» Kolossal. Aber Felipe hat erkannt,
was jenen, die keine Fühlenden Felsjünger sind, meistens verborgen bleibt -
daß die Geschichte, die sichtbar auf die Welt gehäuft ist, nur einen Bruchteil
darstellt, nur eine äußere Fassade. Daß wir auch auf das Ungesagte achten müssen,
auf das Schweigen rings um uns her, auf den Weg jedes nächsten Steines, dem
wir begegnen - seine Äonen von Geschichte unter der langen und weiblichen Beharrlichkeit
von Wasser und Wind (wer wird zur Stelle sein, ein- oder zweimal pro Jahrhundert,
um den Verschluß auszulösen?), bis hier herunter ins Flachland, wo sich eure
Wege, der menschliche und der mineralische, am wahrscheinlichsten kreuzen ...
- Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei
Hamburg 1981