Bettuch   Sie hatten zunächst versucht, in den kleinen Hinterhof hinauszukommen, weil die Wasserfluten die wenig robuste Tür eingedrückt hatten, aber damit erreichten sie lediglich, daß noch mehr Wasser ins Haus strömte. Wären sie zu dem Zeitpunkt aus der Wohnung hinaus gelangt, wären sie alle drei auf der Stelle umgekommen, weil das Wasser mit sechzig Stundenkilometern dahinschoß und Baumstämme und Autos und alle möglichen Trümmer durch die schmalen Straßen geschwemmt hat. Das hätte kein Mensch überlebt.

Ich weiß nicht, ob ihnen das klar war, aber jedenfalls hockten sie auf dem Fensterbrett, wahrend das Wasser an ihnen vorbeirauschte, und schrien. Wir hatten kein Stück Seil im Haus, aber mein Mann kam auf die Idee, ein paar Bettücher zusammenzuknoten. Er schrie zu Signor Chiari hinunter, er solle die kleine Elena ans Ende des Bettuchs binden. Natürlich war das furchtbar gefährlich, aber was hätten wir sonst tun können? Das vorbeirauschende Wasser stieg von Sekunde zu Sekunde und hätte sie bald mitgerissen. Aber seine Stimme war unten nicht zu hören. Das lag nicht nur am Wasser, sondern an den Explosionen, die inzwischen eingesetzt hatten, und an der Tatsache, daß Anna völlig hysterisch war und alles noch schlimmer machte, weil sie ununterbrochen schrie. Bei jeder Explosion schössen riesige Wasserfontänen empor. Die Abwasserkanäle explodierten und die Gasleitungen und die Heizkessel, aber uns kam es vor wie das Ende der Weh, zumal es uns im Schlaf überrascht hatte und wir noch zu benommen waren, um zu begreifen, was geschehen war. Ob Signor Chiari uns hören konnte oder nicht, jedenfalls hat er versucht, der kleinen Elena das Bettuch unter den Armen umzubinden. Vermutlich hört sich das einfach an. Solche Sachen sieht man ständig im Fernsehen, stimmt's? Aber in Wirklichkeit war es unmöglich. Die Strömung zerrte an ihren Beinen, und er umklammerte mit einem Arm das Kind und mit dem anderen einen Fensterladen. Wie konnte er ihr da das Bettuch umbinden? Sooft er danach griff, mußte er es wieder loslassen und sich am Fensterladen festhalten, und Anna schrie und schrie, statt ihm zu helfen. Wir fühlten uns so hilflos, weil wir von hier oben nur zusehen konnten, und ich glaube, schon da wußten wir, daß es hoffnungslos war. Aber wir hatten keine Ahnung, was wir hätten tun können, außer dieses nutzlose Bettuch hinunterbaumeln zu lassen.

Dann gab es einen fürchterlichen Knall - der Heizkessel im Keller des Nachbarhauses explodierte -, und im selben Augenblick zersplitterte das Fenster, aus dem wir uns hinausbeugten, so daß wir uns übel geschnitten haben. Ich weiß noch, daß ich rücklings auf den Boden gefallen bin. Als ich wieder hinausgeschaut habe, war die kleine Elena verschwunden. Anna hat noch immer geschrien, aber ich weiß nicht, ob ihr überhaupt klar war, daß das Kind nicht mehr da war, weil sie das Gesicht an die Wand neben dem Fenster gepreßt hatte. Wir haben gesehen, wie sich ihr Mann ms Wasser stürzte und nach Elena schrie. Er war sofort verschwunden, tauchte aber wenig später ein Stück weiter hinten an einem Tisch auf, der sich zwischen Hauswand und einem Laternenpfahl verkeilt hatte. Wir haben noch gesehen, wie er die Arme ausgestreckt und versucht hat, sich daran festzuhalten. Vielleicht hätte es ihm das Leben gerettet, aber da schwemmten die Fluten einen umgekippten Bus an, der die Straße vollständig ausfüllte. Nachdem es ihn vorbeigespült hatte, war alles verschwunden, der Laternenmast, der Tisch und Signor Chiari.   - Magdalen Nabb, Tod einer Verrückten. Zürich 1997

Bett

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