Bettnachbarinnen  Allmählich senkte sich die Sonne auf die Skrofulöse herab und verschmolz mit ihr. Langsam näherte der Mond sich der Epileptikerin, und beide waren nur noch eines. Die Sonne auf der Skrofulösen war wie eines der Gewänder, das Aschenputtel sich aus dem Baume schüttelte, und der Mond auf der Epileptikerin schimmerte wie ein Teppich von Schnee. Fräulein Zeline war nicht mehr blind: sie sah die ganze Welt zu ihren Füßen jenseits ihres kleinen Gartenhofs ; sie sah die Straße nach Limoges und die ganze Stadt und die ganze Provinz und die ganze Erde, den Sternen-himmel, und über den Sternen ruhte die Vorsehung auf einem Thron zwischen Stanislas Kostka und Frau Georgeret. Sie träumte, daß sie Christus selber wäre.

Am andern Morgen wachte Fräulein Zéline zeitig auf und verlangte nach einem Beichtiger. Sie wandte sich bald nach rechts und sagte zu der Skrofulösen: «Mir hat geträumt, daß Sie die Sonne wären.» Dann wandte sie sich nach links zu der Epileptikerin und sagte zu ihr: «Mir hat geträumt, daß Sie der Mond wären.» Dann, wie zu sich selber und innerlich ganz getrost, nachdem sie ihre Hände auf der Brust vereint hatte: «Mir hat geträumt, ich wäre der gekreuzigte Herr Jesus Christus selber.»

Die Skrofulöse und die Epilektikerin waren sehr gerührt, daß Christus in Fräulein Zélines Traum sie mit der Sonne und dem Mond zu seinen beiden Seiten verglichen hatte. Die Skrofulöse sagte zu Fräulein Zéline: «Wenn Sie sehen könnten, wie häßlich wir sind, zu Ihren beiden Seiten.» -«Ich gratuliere Ihnen, daß Sie blind sind», fügte die Epileptikerin hinzu; «es ist ein großer Jammer, sich selbst zu sehen, wenn man aussieht wie wir.» Fräulein Zeline sagte zu der Skrofulösen: «Wenn du blind wärest, könntest du deinen eigenen Geruch nicht ertragen. Die Vorsehung hat deine Augen geheißen, dich von ihm abzulenken.» Und zu der Epileptikerin: «Wenn du blind wärest, könntest du nicht sehen, wo du am besten hinfällst.» Und zu allen beiden: «Seid nicht neidisch auf mich. Wenn ihr euch sehen könntet in eurer Schönheit, wie ich euch mit meinen beiden Jesus-Christus-Augen sehe!»   - Marcel Jouhandeau, Fräulein Zéline oder Gottes Glück zum Gebrauch eines alten Fräuleins. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964

 

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