Betrug, gegenseitiger    Ich kann mir selbst Dein Briefchen, Deine Botschaft schreiben; wir sind also in ein so seltsames Gewirr verstrickt, daß unsere Hände sich, obwohl getrennt, nicht unterscheiden und Dein Betrug an mir ein und dasselbe ist wie mein Betrug an Dir. Gewiß, ich kann es nicht leugnen: diese Botschaften locken mich; aber ich weiß, alter Mann, ich weiß, schamlose Eiche, worauf ihr wartet: ich soll mich ausliefern - ich, der ich gekämpft habe und heldenhaft als Feigling gestorben bin, soll mich der Liebe ausliefern als einem offenkundigen gegenseitigen Betrug. Glaubt nur nicht, daß ich euch nicht verstehe; ich habe seit langem gelernt, die Süße der Täuschungen, die Klarheit der Rätsel, die absichtlichen Irrtümer, das zufällig aufgeschlagene Buch, den Spott und die unvermittelt übereinstimmenden Worte nicht zu verachten. Ich weiß auch, daß es keinen Text gibt, der seine eigenen Zweideutigkeiten bewältigen kann, und keine Worte, die sich selbst erklären können. Wenn Du mich liebst - und ich weiß nicht, ob die Liebe auch den Träumenden gewährt wird -, dann liebst Du mich, wie man nach vielen Lieben noch lieben kann, so daß die Geheimnisse, die Un-genauigkeiten, die verwechselten Namen - heillose Beharrlichkeit - alle Deine Versuche, einem beliebigen natürlichen oder angestrengt unnatürlichen, nur noch für allegorische Gespräche zugänglichen Empfänger Botschaften zu schicken, vage, wirr und unwirksam werden lassen. Du könntest Dich an Unternehmenslisten, Wahlsprüche und gewisse undeutliche aber nicht unlautere Anzeichen halten, könntest Symptome, Zeichen einer sinnvollen Krankheit, ein berechnetes Syndrom, einen Klumpen mühsamer und widerborstiger Träume vorschlagen. Ich könnte, wirst Du mir sagen, alter Mann, ja auch ein unbeschriebenes Briefchen annehmen und nichts hineinschreiben; aber wäre dieses makellose Weiß nicht bereits eine Anspielung auf das Schweigen und auf ein unerträgliches Gelärme, eine Identitätserklärung, oder auf die Unmöglichkeit, Entfernungen einzuschätzen und gleichzeitig die Verzweiflung, die Zersplitterung, das Bevorstehende oder die Anspielungen auf das Nichts zu sondieren, ein mehr stummes Flüstern, wie etwa »Ich bin zwar hier, aber wir haben uns nichs zu sagen« oder »Ich und Du, wir sind seit jeher miteinander unbekannt.«  - Giorgio Manganelli, Amore. Berlin 1982
 

Betrug Gegenseitigkeit

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