- Heinrich Seidel, Der Hexenmeister. In: Teufelsträume.
Phantastische Geschichten des 19. Jahrhunderts. München 1983 (zuerst 1889)
Besuch (2) Ein Schlüssel dreht sich im Schloß. Ein Riegel wird zurückgeschoben. In der hohen, sehr sauberen Zelle erhebt sich ein Mann. Sein Gesicht hat einen fragenden Ausdruck.
»Wie geht's, Lenoir?« begrüßte ihn der Kommissar.
Das kaum angedeutete Lächeln verschwand, ein plötzlich aufsteigender Gedanke ließ seine Züge erstarren. Die Augenbrauen zogen sich argwöhnisch zusammen, und der Mund nahm einen bitteren Ausdruck an. Etwa eine Sekunde lang. Dann, nach einem Achselzucken, streckte der Mann dem Besucher die Hand hin.
»Verstehe«, sagte er.
»Was?«
»Geben Sie sich keine Mühe! Ich weiß, welche Nachricht Sie mir bringen.«
»Ich gehe morgen in Ferien, und ...«
Der Gefangene unterbrach ihn mit einem trockenen Lachen. Es war ein großer Bursche mit zurück-gebürstetem, braunem Haar, regelmäßigen Zügen und dunklen Augen. Ein feines Schnurrbärtchen unterstrich das Weiß seiner auffallend spitzen Zähne.
»Nett von Ihnen, Herr Kommissar.«
Dabei reckte er sich, gähnte und klappte den Deckel des Kübels in der Zellenecke zu.
»Entschuldigen Sie die Unordnung.«
Dann bohrte er seinen Blick in Maigrets Augen.
»Das Gnadengesuch ist also abgelehnt?«
Leugnen wäre zwecklos gewesen. Er hatte verstanden. Während er auf und ab ging, sagte er:
»Ich habe mir keine falschen Hoffnungen gemacht. Und nun? Morgen?«
Er konnte es nicht verhindern, daß seine Stimme weniger fest klang und seine Augen den Lichtstrahl suchten, der durch das schmale Fenster unter der Decke fiel.
Zur gleichen Stunde riefen die Zeitungshändler auf den Terrassen der Cafés:
»Ablehnung des Gnadengesuchs des Bandenführers von Belleville. Die Hinrichtung
Lenoirs auf morgen festgesetzt.« - Georges Simenon, Maigret und die
Groschenschenke. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 9, zuerst 1931)
Besuch (3) Vielleicht hatte er gar nicht die Absicht, sie zu töten, als er das Haus am Boulevard Rochechouart betrat, und er trug auch keine Waffe bei sich. Vielleicht wollte er sie in Ihren Armen überraschen.
Als er hereinkam, lag sie nackt auf dem Bett. Für wen hatte sie sich entkleidet, da sie doch seinen Besuch nicht erwartete?
Er glaubte, ein Anrecht auf sie zu haben, da er ihr alles aufgeopfert hatte. Er schämte sich, seine Frau und seine Tochter im Stich gelassen zu haben. Und jetzt betrog sie ihn mit dem ersten besten Mann, der ihr über den Weg kam.
Ich weiß nicht, was sie miteinander geredet haben. Jedenfalls ist es
Nina Lassave nicht gelungen, ihn zu besänftigen. Sie hatte keine Angst.
Das ersah man schon aus der ganzen Art, wie sie dalag,
als sie aufgefunden wurde... Er aber war so außer sich, daß er sie erwürgt
hat... Damit machte er seinem ganzen Leben ein Ende.
- Georges Simenon,
Maigret
und der einsame Mann. Zürich 1990 (detebe 21804, zuerst 1971)
Besuch (4) Wir wissen von Alexander Gilchrist, dem ersten Biographen Blakes, dessen Werk ›The Life of William Blake‹ erst nach dem Tode Gilchrists 1863 mit Hilfe der Brüder William Michael und Dante Gabriel Rossetti ediert wurde, daß Blake oft den Besuch von Personen empfing, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilten, und daß er sie mit der größten Selbstverständlichkeit willkommen hieß und mit ihnen diskutierte. So war er mit Miltons Ansichten keineswegs immer einverstanden: »Einmal versuchte ich Milton zu überzeugen, er wäre im Unrecht, doch hatte ich keinen Erfolg. Sein Geschmack war heidnisch; sein Haus war nicht gotisch, sondern im Stil Palladios.«
Blake sah diese Besucher, die sich meist zu nächtlicher Stunde bei ihm einstellten,
mit größter Klarheit und bei hellem Bewußtsein; oft hat er sie gezeichnet, als
würden sie ihm zum Porträt sitzen, und manchmal meinte er, sie seien mit dem
Ergebnis nicht zufrieden. - Wieland Schmied, Zweihundert Jahre
phantastische Malerei. München 1980
Besuch (5) Willkommen,
lieber Manig Mein lieber Freund Manig steht vor dem Hause, bei
einem Busch, auf glattgemähtem Rasen. Er will mich wohl besuchen. Ist es nötig,
daß ich ihm winke? Nein, es ist wohl nicht nötig. Vielleicht hat er mich gar
nicht erblickt, der ich auf der Veranda sitze, dunkelgrün schattig, im Korbstuhl,
weißlackiert, das Glas in der Hand. Na, lieber Manig, nun tritt näher. Na, komm,
teurer Freund. Die paar Stufen hoch, wir liegen uns in den Armen. Nimmt der
Busch zu, breitet sich der Busch aus, oder ist es Manig, der sich verkleinert?
Warum wird hier gezögert? Wie immer ist es auf der Terrasse kühl. Manig wäre
willkommen. Erwartet er ernstlich, daß ich mich erhebe, den Stuhl nach hinten
rückend, die Arme ausbreite und ihm zurufe: Willkommen, lieber Manig? Durfte
er, ehe er kam, erwarten, ich sähe ihn zuerst? Ich irre mich wohl. Manig hüpft
zurück, federnd, von Zehe zu Zehe. Ich schaue ins Glas, und ich schaue zum Busch.
Busch, Garten, Stuhl, Glas, Haus, wachsen wir etwa, nur Manig bleibt? Dehne
ich mich etwa? Hört man es knacken? Manig entfernt sich nach hinten. Er schrumpft
in die Ferne. Jetzt hat er die Größe eines Bleistiftes. Des Nachbarn jenseitigen
Zaun hat er erreicht. Die Entfernung läßt seinen Rückzug immer geschmeidiger
erscheinen. Sprung und Stand sind eins. Er gewinnt das Feld. Seine Figur teilt
sich dort als schwarzer Strich einer Glaskugel mit, über die er wandert. Schließlich,
da er zur Größe eines Kommas gerinnt, erhebe ich mich doch, aber gleich nehme
ich den Platz wieder ein, denn er ist ganz verschwunden.
-
Reinhard Lettau, Auftritt Manigs (mit: Schwierigkeiten beim Häuserbauen). Berlin
u.a. 1982
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