Westberlinstadtlandschaftsgelegenheitsgedicht
wenn man von der U-Bahn-Haltestelle Kurfürstenstraße kommend
die Potsdamer Straße entlang geht ist das letzte was man
erwartet die Nationalgalerie wo aber geflickt wird wächst
das Kaputte auch die Gott und Menschen verlassene Ruine
des Anhalter Bahnhofs blättern in Fotobüchern Berlin und
Potsdam 1872 bis 1875 lost Berlin Rotfrontlokale und Goebbels
Gespräch mit Peter Boultwood über die zunehmende Irrealität
von Westberlin aufgetaucht aus der Jugendstilkeramik der
U-Bahn-Haltestelle Bayrischer Platz eingetaucht
in die Phantomstraßenlandschaft eines Fotos von 1907 Gespräch
mit Reiner Schwarz auf dem Balkon seiner Wohnung Münchener
Straße
9 vierter Stock über das Zunehmen des Phantomcharakters von
Westberlin
ganz Westberlin eine einzige ganz egal ob du weißt wer
das ist Bubi Scholz Kosmetik Uraltwüste Wittenbergplatz Gespräch
mit Jürgen Becker über den Plan die S-Bahnhöfe von Berlin zu
fotografieren Schultheiß-Reklame auf dem S-Bahnhof Bellevue
da hat noch der Blick des Doktors drauf geruht das
reißend Verzehrende der Vergangenheit plötzlich der Überfall
des Uraltgeräuschs der S-Bahn gemischt mit dem Röhren einer
Düsenmaschine permanente Gegenwärtigkeit des Geräuschs
an und ab fliegender Flugzeuge Brechts Stadt Benjamins Stadt
Carl Einsteins Stadt Max Fürsts Stadt mitten in der Martin
Luther Straße ein stehengebliebenes Fassadentürmchen Mythos
Savignyplatz Sommerhimmel über dem abgeblätterten Putz eines
Wohn- blocks aus der Gründerzeit im Mittelfeld der Fassade
ein Pelikan mit ausgebreiteten Flügeln früchtebunte
Auslage eines türkischen Gemüseladens Mittagsstrich Berliner
Kindl siebzehn bis siebzig die glatt- geschorenen Köpfe
der türkischen Kinder ein Indonesier im grünen T-Shirt
U-Bahnsteig Zoo angesaugt an eine blonde Dauerwelle beobachtet
von einem sandfarbenen Jackett mit marineblauer Bluse und
grauem Plisseerock diese Mischung aus grauhaarigem Spießer
Strich und in die eigene Kotze verrenkt Zusammengebrochenen
Berlin ist der Abschaum der Menschheit sagt eine Stimme
zwischen Bahnhof Zoo und Straße des 17. Juni zurückgestaucht
in mich selbst wenn sich plötzlich ein Loch auftun würde
wären alle Probleme gelöst vereinzelt zwischen vereinzelten
türkischen Familienverbänden und einsamen Hundeausführern
umkreise ich langsam die Strafanstalt Moabit sonntagabends
am Ende der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts
Johanneskirche Alt-Moabit Abendmahl Pastor Radatz Heilige
Geist Kirche Perlebergstraße die Kneipe zum Tönnchen gelbrote
Jugendstilziegelfassade Birkenstraße Wilsnackerstraße Rathenowstraße fleckenlos
wandernde Windschraffur auf der glatten Schiefer- gräue
der Spree langsam sinkt der Abend herab Sonnenunter- gang
Spreestraße Melanchthonstraße Calvinstraße Helgoländer
Ufer Häuser Höhlen Abbruchwohnungen Stadtunplanung Sackgasse
Margaretenstraße die Höhle Ingomar Kieseritzkys hängend
über der Bläue des Halensees das reißend Verzehrende der
Erinnerung das Echo der Schritte der Vergangenheit
das Echo der Schritte des Gestorbenen die Unterführungen
der neuen Messehalle sind so leer wie die Ödfelder an der
Mauer in Kreuzberg Geschichte die auf der Stelle tritt
und im Kreis um sich selbst herum sich erlöst indem sie
sich auslöscht Tageszeiten des an und ab schwellenden Berufsverkehrs
hier wie überall Taxieinfahrten hier wie überall von
Schnellstraßen abgeschnittene Wohnblöcke und Schlösser hier
wie überall Landungsmanöver der Schwäne Murschbrücke westwärts in
plötzlich orkanartig aufbrausender Geschwindigkeit wird einst
alles verzehrt worden sein und die Ungeheuerlichkeit der
Geschwindigkeit wird stillstehn im Wind der Ewigkeit das
unbegreiflich Verzehrende der Erinnerung eine graue verschwommene
Wolke in zehntausend Meter Höhe ist alles was übrig geblieben
sein wird dieser schwarze Sack Berlin in den ich immer auf
die gleiche Weise rein falle nichts ist wirklich Vorgabe
alles Wirklichkeit ist alle selbst
die Reklame löst sich auf in irreal schwebende Überlegung
wo überhaupt keine mehr ist in stillgelegten U-Bahnhöfen Ostberlin
ununterbrochen stehende Bewegung
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